Ein Junge steht unter Druck
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Wie überlebt ein Mensch als Außenseiter, eingekesselt in Systemen der Bevormundung und Arroganz? Der Rostocker Andreas Tiede hatte Pech. Seine Ausgangsposition machte ihn zu einem solchen Außenseiter. Sein Vater: traumatisiert von Erfahrungen des Krieges und der Gefangenschaft. Die Mutter: ein warmherziger Rückhalt. Sie pflanzte dem Jungen einen kindlich tiefen Glauben in die Güte Gottes ein. Beide Eltern: fest verankert in der katholischen Kirche.
Aber das machte den Jungen früh zu einem Fremden. Schon in der Grundschule musste er sich wehren. Ein Schüler, der „noch“ an Gott glaubte, wurde beschimpft und verspottet. Ein Schüler, der nicht in die sozialistischen „Jungen Pioniere“ eintreten wollte, hatte nicht nur die Lehrer, sondern auch seine Mitschüler gegen sich.
Andreas war ein „Bestschüler“. Aber das Weiterkommen verlangte den Gleichschritt mit dem sozialistischen System. „Andreas, deine Zukunft hängt davon ab“, sagte die Klassenlehrerin, die Andreas mochte.
Seine katholische Gemeinde hätte für diesen Jungen ein Ort des Friedens sein können. Er wurde eifriger Messdiener, mit viel mehr Ernst bei der Sache als die anderen Ministranten. Nur der junge Kaplan hatte Verständnis, er lobte ihn und zeigte ihm seine Zuneigung. Das Verhältnis wurde vertrauchlicher – aber auch verstörend –, wenn etwa der Priester den Jungen umarmen wollte und ihn seine sexuelle Erregung spüren ließ. Es kommt zum Eklat, als der Kaplan sich von seinem Messdiener eincremen lassen will – und sich splitternackt mit erigiertem Glied im Schlafzimmer präsentiert.
Andreas Tiede hat sein Leben in einer Autobiografie beschrieben. Sein Nachname ist ein Pseudonym. Ansonsten aber sind alle handelnden Personen, Orte und Ereignisse identifizierbar. „Einspruch nicht vorgesehen“, so lautet der Titel dieser Autobiografie. Andreas Tiede hat „überlebt“, weil er trotzdem immer wieder Einspruch erhoben hat. Als Schüler im Gymnasium, als Kriegsdienstverweigerer und Bausoldat, als Messdiener gegenüber dem übergriffigen Kaplan, als Student im Priesterseminar. Nicht jeder dieser Einsprüche hatte Erfolg. Als er wie viele andere Rostocker beim Rat der Stadt gegen die Sprengung der Christuskirche (1971), änderte das nichts – das Schreiben des Schülers wurde sofort der Schule weitergeleitet, wo der ohnehin verdächtige Schüler nur erneute Drohungen und Beschimpfungen seiner Lehrer einstecken musste. Erfolg hatte wenige Tage später aber der Brief seines Vaters an die Schuldirektion. Der Vater pochte auf die in der DDR-Verfassung garantierte Religionsfreiheit. Das machte Eindruck – und rettete das Abitur.
„Niemand würde mir glauben oder mir helfen“
Weitaus schwerer war der Widerstand gegen die sexuellen Annäherungen des Kaplans. Der Junge empfand einen natürlichen Ekel dagegen. Aber sexuelle Aufklärung gab es in seiner kirchlichen und staatlichen Umgebung kaum. Wen ansprechen? Die Eltern? Den Pfarrer? „Niemand würde mir glauben oder mir helfen.“
Die Situation wurde noch verzwickter, als Andreas Tiede sich entschloss, Priester zu werden. Beide würden Amtsbrüder werden – die Aussicht, die Übergriffe auf dem Dienstweg zu enthüllen, kaum möglich. Dem namenlosen Theologiestudenten stand ein geachteter Priester gegenüber, der sich der besonderen Wertschätzung des Bischofs erfreute. Ein Besuch in dessen neuer Wirkungsstätte Wismar ließ die Situation eskalieren. Der inzwischen zum Pfarrer aufgestiegene Kaplan näherte sich erneut sexuell dem Studenten – das führte zum Bruch. Tiede wandte sich an den Regens und den Spiritual seines Priesterseminars (Erfurt). Vergeblich.
Langsam verlor er das Interesse am Priesterberuf. Eine Affäre mit einer verheirateten Frau beendete erst einmal das Kapitel Theologiestudium. Vorerst. Denn noch längere Zeit – trotz eines beruflichen Neustarts außerhalb der Kirche – beschäftigte Andreas Tiede die Priesterberufung. Er nahm erneut Kontakt mit dem Priesterseminar und mit dem Schweriner Bischof auf und bat um eine zweite Cance. Aber dieser Versuch scheiterte völlig. Der Bischof stimmte einer erneuten Prüfungszeit in einem Gemeindepraktikum zu – und bestimmte die Pfarrei. Es war die Pfarrei, in der der Missbrauchstäter Pfarrer war: Wismar.
Einige Zeit später kam es zu einem Gespräch mit dem Bischof, in dem Tiede deutlich machte, wie er seit dem 16. Lebensjahr unter den sexuellen Übergriffen des Geistlichen gelitten habe.
Der Bischof habe wütend reagiert und von „absurden Anschuldigungen“ gesprochen, so berichtet Tiede in seinem Buch. Was den Berufsweg anging, war die Sache für ihn abgeschlossen. Beruflich sattelte er um, wurde Informatiker und bekam eine leitende Stelle in einem Berliner Betrieb.
Inzwischen ist er 42 Jahre lang verheiratet und hat erwachsene Söhne. An drei Informationsabenden in Mecklenburg hat er im Jahr 2019 seine Lebensgeschichte erzählt – damals in Kürze, jetzt auch in einem 350 Seiten starken, spannend erzählten Buch. Die Fakten erfährt man ähnlich auch anderswo. Aber dieses Buch vermittelt einen Eindruck, wie sich ein Einzelner fühlt, der ohnmächtig unter den Druck von Staatsideologie und Machtsystemen gerät. Häufig ist der Erzähler allein auf sich gestellt. Aber es tauchen auch Menschen auf, die sich auf die Seite des Außenseiters stellen. Diese Menschen und seine innere Widerstandskraft haben ihn über alle Ohnmacht hinweggeholfen.
„Von den schweren psychischen Folgen des Missbrauchs kann ich mich leider nicht befreien. Sie werden ein Teil von mir sein, mir aber Motivation und Kraft geben, wachsam zu sein.“
Tiede ist heute nicht mehr Mitglied der Kirche. Aber seinen Glauben an Gott hat er nicht verloren: „Gott hat jedem von uns seinen eigenen Geist und seine Freiheit verliehen, damit wir sie nutzen.“