Ein Spiel mit dem Licht des Himmels
Foto: Jan Petersen
In der Kirche des Dorfes, in dem er aufgewachsen ist, hat Jan Petersen nie auf die Fenster geachtet. Nicht dass diese Fenster nicht sehenswert gewesen wären. Aber so ist es bei Kirchenfenstern: Man sieht sie, aber übersieht sie auch. „Das ist mir aber oft aufgefallen“, sagt Jan Petersen. „Viele Kirchengemeinden kennen zwar ihre Bilder und Statuen und andere Kunstwerke. Aber sie wissen nicht, wer die Glasfenster gemacht hat und wann sie entstanden sind. Die Fenster werden offensichtlich als Teil der Architektur gesehen, nicht als Kunst.“
Jan Petersen hat Kirchenfenster inzwischen sehen gelernt wie kaum ein anderer. Drei Jahre lang hat der Mediengestalter aus Kiel Hinterglasmalereien in den Kirchen Schleswig-Holsteins und Hamburg fotografiert. Nicht einige ausgewählte, sondern mehr als tausend. Die Anregung dazu kam von seinem Projektpartner, dem Hamburger Axel Lohr. Der Historiker war vor zehn Jahren im Herrenhaus Trenthorst auf den Altonaer Glaskünstler Karl Joseph Hölle (+1946) aufmerksam geworden. Fasziniert von der Kunst der Glasgestaltung, suchte er weiter: Die meiste Glaskunst befindet sich nicht in Schlössern, sondern in den 1500 Kirchen in den beiden Ländern.
Und bald hatten Axel Lohr und Jan Petersen ein großes Ziel: eine umfassende Bild- und Textdokumentation von Kirchenfenstern in Hamburg und Schleswig-Holstein zu erstellen. „Als wir anfingen“, erzählt Jan Petersen, „wussten wir nicht: Wie viele werden es? Hundert vielleicht?“ Beide begannen, die Kirchen in den beiden Bundesländern „abzuklappern“. Aus den 100 ausgewählten Kirchen wurden schnell 200, dann 300. „Im Frühjahr kamen noch einmal hundert dazu, dann mussten wir Schluss machen.“ Denn einmal musste das Projekt ja in den Druck. Entstanden ist ein gewichtiges Werk. Zweieinhalb Kilogramm wiegt der Bildband, auf 580 Seiten enthält er mehr als 1 000 Farbfotos, mehrere Register – sogar ein Register der auf Kirchenfenstern abgebildeten Bibelstellen –, Textbeiträge und Geleitworte der Bischöfe Gothart Magaard und Stefan Heße.
Wer dieses Buch aufschlägt, wird gefangen von der Vielfalt der Stilrichtungen, der Leuchtkraft der Farben und nicht zuletzt von den Lösungen, die die Künstler passend zur Architektur verschiedener Kirchen gefunden haben. Es gibt zwar „klassische“ Baumuster mit Rund- und Spitzbogenfenstern. Es gibt aber auch moderne, rechteckige Räume, die gar nicht in der Tradition der Kirchenarchitektur stehen. Beispiel: die Kirche des Benediktinerklosters Nütschau. Die äußere Konstruktion könnte auch eine Empfangshalle für ein Rathaus oder ein Firmengebäude beherbergen. Erst die 1975 erstellte Glasgestaltung von Siegfried Assmann macht aus diesem Flachbau einen beeindruckenden sakralen Raum.
Siegfried Johann Assmann (1925 – 2021) gehört neben Franz-Wilhelm Griesenbrock, Hanno Edelmann, Claus Wallner und Dagmar Schulze-Roß noch zu den namhaften Künstlern. Viele andere sind kaum bekannt. Berühmtheiten wie Marc Chagall, Gerhard Richter oder Günther Uecker sind in der Region nicht (in Glas) zu finden. Und von den mittelalterlichen Fenstern ist bis auf eine Ausnahme (Breitenfelde im Herzogtum Lauenburg) keines mehr erhalten. Erst ab dem 19. Jahrhundert lässt sich die Entwicklung dieser Kunstrichtung verfolgen. „Die älteren Glaskunstwerke dienten dazu, etwas zu erzählen“, sagt Jan Petersen. „Auf den Fenstern sah man biblische Geschichten. Später ging es auch darum, die Kirchen möglichst prächtig auszustatten, um die Menschen zu beeindrucken.“
Nehmen Sie sich Zeit! Genauso wie für ein Gemälde.
Heute, da leuchtende Farben und abstrakte Formen gefragt sind, spielt die optische Atmosphäre des Raumes eine wichtige Rolle. „Wenn man eine Kirche betritt, verlässt man die Außenwelt und tritt in einen besonderen Raum ein. Und dieser Wechsel wird auch durch das Licht der Fenster hervorgerufen.“
Wie betrachtet man diese Fenster am besten? „Vor allem ist die Ruhe wichtig“, sagt der Fotograf. „Nehmen Sie sich Zeit – genauso wie für ein Gemälde, das Sie betrachten! Das Schöne ist ja: In einer Kirche habe ich diese Zeit. Anders als in einer Kunstausstellung oder einem Museum. Da muss ich mir noch hundert andere Bilder angucken.“
Wie kein anderer Teil der Kirche bieten die Fenster den Gestaltern die Möglichkeit zu experimentieren. Und zwar fast ohne Grenzen. In der Apostelkirche in Hamburg-Eimsbüttel sind Fotografien von „Aposteln der Moderne“ im Glas eingelassen: Sophie Scholl, Oscar Romero, Dietrich Bonhoeffer, Simone Weil. In der Friedhofskapelle Bergstedt schwebt der auferstandene Christus, mehrere Fenster überspringend, über einem Heer von skelettartigen Toten. Wie ein gigantisches Kinderaquarell mit Traumbildern von Wasser, Land, Chaos und Hoffnung leuchtet die Noah-Darstellung in der Heilig-Geist-Kirche in Farmsen. In St. Gertrud (Flensburg) entschlüsseln sich bunte Farbtupfer als die sieben „Ich-bin-Worte“ Jesu. In einer Dorfkirche (Schretstaken, Lauenburg) findet man plötzlich ein von asiatischer Tintenmalerei und Fotographie inspiriertes Werk, das in einer New Yorker Avantgarde-Galerie hängen könnte. Und in der Quickborner Marienkirche wechselt das Bild sogar ständig. In den Klarglasflächen des Altarraums sieht man die Bäume draußen – grün im Frühjahr, bunt im Herbst.
Jan Petersen ist des Schauens nicht müde geworden, auch nicht nach Tausenden von Fotos aus allen Blickwinkeln und Perspektiven – und zu jeder Tageszeit. Glasfenster haben eine wunderbare Eigenschaft, die es dem Betrachter – und dem Fotografen – leicht machen. „Man kann sie bei jedem Wetter anschauen. Im Schleswiger Dom war ich bei Sturm und Regen. Es war draußen richtig düster. Aber die Fenster – die haben geleuchtet!“
BUCH
Gläserne Kunst in Kirchen
Der beschriebene Bildband ist im Buchhandel wie folgt erhältlich:
Axel Lohr, Jan Petersen: Kirchenglasmalereien in Hamburg und Schleswig-Holstein.
In der Reihe: Studien zur schleswig-holsteinischen Kunstgeschichte Bd. 21.
Erschienen 2023, 580 Seiten, über 1000 Fotos, 60 Euro
ISBN 978-3-9820897-5-1
Diese Publikation wurde gefördert u.a. von der ev. luth. Nordkirche und dem Erzbistum Hamburg.
Viele Darstellungen finden sich auch auf der Internetseite https://sh-kunst.de