9. November 1989 hat Leben als Priester auf den Kopf gestellt

Ein Tag, der die Welt verändert hat

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Der 9. November 1989 hat sein Leben als Priester auf den Kopf gestellt, sagt Pfarrer Michael Bresan (Ostritz). Welche Folgen der Mauerfall für ihn und seinen Dienst hatte, beschreibt er im folgenden Beitrag.

Der Umwelt- und Lehrgarten im Kloster St. Marienstern in Panschwitz-Kuckau ist ein Projekt des Christlich-Sozialen Bildungswerkes Sachsen (CSB). Die Gründung dieses Vereins ist eine Folge des Mauerfalls am 9. November 1989.    Foto: Matthias Holluba

 

In diesem Jahr denken wir zum 30. Mal an den Fall der Mauer in Berlin. Für alle, die es bewusst miterlebt haben, wird es ein unvergesslicher, emotionaler Moment bleiben. Der Mauerfall war für die gesamte Bevölkerung, besonders für die Ostdeutschen, der tiefste Einschnitt in ihre Existenz, der früher oder später die gesamte Lebenssituation verändern sollte. Ich möchte erzählen, wie mich die Nacht am 9. November 1989 überrascht hat. Diese dramatischen Augenblicke haben mein priesterliches Dasein und mein gesamtes Umfeld, in dem ich als Geistlicher tätig war, mit nicht zu erwarteten Konsequenzen auf den Kopf gestellt.
 
Der Beginn einer intensiven Ost-West-Freundschaft
Seit 1985 war ich Pfarrer in der sorbischen Pfarrei Nebelschütz. 1986-88 hatte ich das Pfarrhaus modernisiert und den alten Kuhstall des Dreiseitenhofs in einen Pfarrsaal mit darüber liegenden fünf Gästezimmern umgebaut. In der Pfarrgemeinde gab es zum damaligen Zeitpunkt noch kinderreiche Familien. Wie es üblich war, gaben die Pfarrämter der Caritas Adressen solcher Familien weiter. Diese vermittelte sie nach Westdeutschland. Hilfsbereite Familien von der anderen Seite schickten dann Pakete mit Kinderkleidung und in der DDR schwer zu bekommenden Artikeln.
In Nebelschütz lebte ein Ehepaar mit zehn Kindern. Als die älteste Tochter im Frühjahr 1989 heiratete, reiste zum ersten Mal Familie Osterbrink aus Bad Honnef an, die die Familie in Nebelschütz schon viele Jahre unterstützte. Beide  Familien wollten sich endlich persönlich kennenlernen. Weil im Bauernhaus der Nebelschützer Großfamilien kein Platz war, fand Familie Osterbrink bei mir in den neuen Gästezimmern Quartier. So begann meine Freundschaft mit Werner Osterbrink, dem damaligen ehrenamtlichen Bürgermeister von Bad Honnef und Dozenten für christliche Soziallehre am dortigen katholischen Sozialinstitut (KSI) der Erzdiözese Köln.
Werner Osterbrink war schnell begeistert von unserem sorbischen Land. Die vollen Kirchen am Sonntag, die freundschaftliche Verbundenheit der Nachbarn, die große Gastfreundschaft der Sorben und nicht zuletzt die vielen Kreuze an den Gehöften und Wegrändern der Dörfer – Zeugen des katholischen Lebens in der Oberlausitz. Er sprach mit mir darüber, dass er jedes Jahr mit seinem Jahreskurs des KSI eine Reise in das geteilte Berlin unternehme, um an den Gedanken eines vereinten Deutschlands zu erinnern. In diesem Zusammenhang fragte er mich, ob er auch einmal mit den Studierenden nach Nebelschütz kommen könne. Ich stimmte ohne lange Überlegungen zu und lud sie herzlich ein. Er versicherte mir, noch im selben Jahr mit seinen Schülern zu kommen.
Nachdem die Hürden der DDR-Einreisebestimmungen genommen waren, war es dann im November soweit. Werner Osterbrink traf mit einer Gruppe von zwölf Studenten am 5. November bei uns ein. Ich erinnere mich noch, wie ich ihm bei der Ankunft sagte: „ Werner, die politische Lage ist bei uns augenblicklich hochexplosiv. Ich weiß nicht, was passiert sein wird, wenn ihr wieder zurückkehrt.“
Nach erlebnisreichen Tagen feierten wir am 9. November in der „Bar zum wilden Sorben“ Abschied. Es war etwa um 22 Uhr als Jugendliche aus dem Dorf die Treppe zu uns herunterpolterten und das Unfassbare riefen: „Die Mauer ist gefallen“. Alle von uns glaubten zunächst an einen alkoholisierten Scherz. Aber dann griff es allmählich in den Köpfen um sich. Das nicht Denkbare war geschehen. Werner und ich hegten sofort keine Zweifel: „Das ist der Anfang der deutschen Einheit.“ Über die weitreichenden Konsequenzen dieser Nacht waren wir uns keineswegs im Klaren, aber eins vereinte uns sofort, wir würden von nun an von beiden Seiten alles tun, um unsere Freundschaft und unser gegenseitiges Interesse zu fördern und zu stärken.
Schon in den nächsten Tagen fuhren zwei Jugendliche aus Nebelschütz nach Bad Honnef, um dort ihre Lehre und später ihr Studium zu beginnen. Später sollten aus Wittichenau und Umgebung noch viele folgen. Die meisten von ihnen sind heute in ihrem Beruf erfolgreich. Im politischen Bereich organisierten wir zunächst für die ersten freien Wahlen in der DDR im Gemeindesaal zu Nebelschütz Seminare mit erfahrenen Politik-Fachleuten aus dem Umkreis von Osterbrink, um die sich zur Wahl stellenden Kommunalpolitiker zu informieren.
 
Verein statt Stiftung, christlich statt katholisch
Werner Osterbrink schlug mir außerdem vor, für unser sorbisches Gebiet eine katholisch-soziale Stiftung zu gründen. Eine Stiftung hätte eines großen Vermögens bedurft, was uns nicht zur Verfügung stand. So entschieden wir uns, einen eingetragenen Verein zu gründen – ein katholisch-soziales Bildungswerk für die sorbische Bevölkerung. Fast auf den Tag genau zwei Jahre später, am 11. November 1991 setzten wir das Vorhaben um. Der Verein sollte nicht nach dem Bad Honnefer Vorbild „katholisch-sozial“ heißen, sondern nach meinem Vorschlag „christlich-sozial“, um in Zukunft über das katholische Sorbenland hinaus in ganz Sachsen wirken zu können. Es entstand das Christlich-Soziale Bildungswerk Miltitz (CSB).
Schnell wurde das Bildungswerk aktiv. Im Zusammenwirken mit der Abtei Marienstern entstand der Klostergarten, heute ein Ernährungs- und Kräuterzentrum. Hier werden viele Angebote wie zum Beispiel Kochkurse gemacht, die jedes Jahr tausende Besucher anlocken. In Hoyerswerda wurde die Kinder- und Jugendfarm ins Leben gerufen. Sie bietet für Kinder die Möglichkeit, sich in ihrer Freizeit und in den Ferien mit Tieren vertraut zu machen. Das CSB organisiert darüber hinaus Jugendabende, Seniorennachmittage und Kinderfeste in Pfarr- und Ortsgemeinden.
Daneben entstanden grenzüberschreitende Projekte mit Partnern in Tschechien und Polen, aber auch im russischen Kalingrad (Königsberg). Diese Projekte waren meist „Hilfe zur Selbsthilfe“ für die Landwirtschaft. Dabei wurden im Auftrag des sächsischen Staatsministeriums für Umwelt und Landwirtschaft Traktoren und andere Landmaschinen vermittelt sowie Fortbildungsangebote organisiert.
Anfang der 1990er Jahre suchten ostdeutsche Kommunen freie Träger für ihre Kindergärten. Für das CSB war 1994 die Übernahme der Trägerschaft von Kindertagesstätten die größte Herausforderung. Im zweisprachigen Raum kamen nach und nach 14 Kindergärten in die Obhut des Vereins. Auf diese Weise erwies sich das CSB bald auch als ein starker wirtschaftlicher Faktor für eine Region, in der es nach der Wende an Arbeitsplätzen gewaltig mangelte. Hatte der Verein im Gründungsjahr einen Geschäftsführer und eine Sekretärin, so waren es am 31. Dezember 1992 bereits zwölf Mitarbeiter, davon neun Frauen. Noch einmal fünf Jahr später waren es 214 festangestellte Mitarbeiter.
Noch eine Auswirkung hatte die Nacht des Mauerfalls. Nach der Vereinigung Deutschlands suchten viele westdeutsche Städte Partnerschaften im Osten und umgekehrt, so auch Bad Honnef. Nachdem Versuche mit Bernau und Prenzlau in Brandenburg fehlgeschlagen waren, schlug ich dem Bürgermeister und dem Stadtrat von Bad Honnef die Stadt- und Pfarrgemeinde Wittichenau vor, wo ich sieben Jahre als Kaplan gewirkt hatte. Ich habe Werner darauf hingewiesen, „die passen zu euch. Sie sind alle katholisch und feiern Karneval.“ So kam es zur Partnerschaft zwischen Bad Honnef und Wittichenau, die neben wirtschaftlichen Vorteilen vor allem für Wittichenau auch viele menschliche Freundschaften brachte und bis heute – fast eine Ausnahme – mit anhaltenden, gegenseitigen Aktivitäten erfüllt ist.
Der 9. November 1989 war ein Jahrhunderttag des 20. Jahrhunderts, der nicht nur die Weltpolitik auf den Kopf stellte, sondern jedes einzelne Schicksal eines Deutschen veränderte – ob positiv oder negativ! Ich ziehe eine gute Bilanz. Aus meiner christlichen Sicht haben diese Stunden auch die Möglichkeit der Veränderung des Geistes und der Herzen vieler Menschen im gutem Sinne bewirkt. Die Frage nach christlich-sozialem Engagement und Einsatz in der Gesellschaft wird gegenwärtig immer lauter und dringender. Kirche und Staat sollten nicht nur den Tag der deutschen Einheit feiern, sondern mehr auf den Geistesblitz und die Inspiration des 9. November 1989 schauen.

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