Albert Biesinger berichtet über seine Nahtod-Erfahrung
"Ein völlig neues Leben"
Lazarus kommt aus dem Grab und geht weg. Und dann? Was hat er aus seinem zweiten Leben gemacht? Albert Biesinger war nicht tot. Aber fast. Und er sagt über die Zeit nach seiner Nahtod-Erfahrung: „Ich habe die Angst verloren.“
Eigentlich war es eine Routineoperation, der sich Albert Biesinger – Theologieprofessor, Diakon, Ehemann und Vater – 2010 unterziehen musste. „Aber sie ging komplett schief“, sagt er. Lebensbedrohlich schief. „Meine Frau hat schon überlegt, wo ich beerdigt werde.“ Elf Tage lag er im künstlichen Koma. Was er in dieser Phase erlebte, prägt ihn bis heute.
„Ich sitze auf einem Stuhl, und vor mir dreht sich ein Rad gegen mich, wie eine kleine Walze. Ich drehe und drehe und bin total erschöpft, ich kann nicht mehr“, erzählt er. „Und dann ist dieses Gefühl plötzlich vorbei, und eine Stimme sagt: Jetzt ist es so weit, jetzt bist du gleich im Himmel.“ Und daraufhin, sagt Biesinger, setzte „ein explosives Glück“ ein. „Ein solches Glück gibt es nicht auf dieser Welt – und das sage ich, obwohl ich ziemlich viel Glück im Leben erfahren habe.“
Biesinger erzählt nicht von Licht, Tunnel oder einem Film des eigenen Lebens. Er erzählt nur von diesem unbeschreiblichen Glücksgefühl. Und von Neugier. „Ich dachte: Jetzt sehe ich gleich Gott, jetzt ist es nur noch eine Sekunde, nur noch ein paar Millimeter. Ich war schon ganz aufgeregt, freudig aufgeregt — und dann sagte plötzlich dieselbe Stimme: Schade um deine Frau.“ Und dann war das Glücksgefühl weg, und Biesinger kehrte in seinen malträtierten Körper zurück. „Das war nicht so einfach“, sagt er. „Ich habe wirklich Trauer gefühlt; nicht, weil ich nicht leben wollte, aber weil das Glücksgefühl weg war.“
Das ist keine untypische Reaktion von Menschen mit Nahtod-Erfahrung. „Manche sind stocksauer, dass sie zurückgeholt wurden“, sagt Biesinger, der sich seitdem auch wissenschaftlich mit dem Phänomen Nahtod beschäftigt. Und das ist nicht die einzige Veränderung, die er in seinem Leben ausmachen kann.
„Mein Leben ist äußerlich vielleicht nicht viel anders geworden“, sagt der Professor für Religionspädagogik. „Ich bin nach drei Monaten an die Uni zurückgekehrt, bin weiter Diakon, Ehemann, Vater und Großvater.“ Aber innerlich sei es „ein völlig neues Leben“. Und das lässt sich auf diesen einen Punkt zurückführen: „Dass ich die Angst vor dem Tod verloren habe, sie ist zerplatzt wie eine Seifenblase.“
„Sterben ist eine heilige Zeit“
„Ich lebe“, sagt Biesinger, „eindeutig entspannter.“ Er rege sich weniger auf als früher, die Gewichtungen hätten sich verschoben, etwa als Dekan der Theologischen Fakultät in Tübingen. „In Situationen, die Kollegen total wichtig fanden, war ich oft tiefenentspannt – was durchaus nicht jedem gefallen hat.“ Er habe Kommunikation in der Familie, in der Gemeinde, mit Freunden und Kollegen noch stärker als früher „als Lebensaufgabe“ empfunden. „Die Themen, die mir früher schon wichtig waren, wie die Glaubenskommunikation in Familien oder Kindertagesstätten, habe ich intensiviert.“ Zum Beispiel hat er in der Kinder-Uni-Reihe des Kösel Verlags ein Buch mitherausgegeben mit dem Titel: „Gibt es ein Leben nach dem Tod?“
Geändert hat sich auch sein Gebetsleben. „Ich bete mehr und persönlicher als vorher, ich meditiere viel. Ich habe irgendwie einen direkten Draht zu Gott, manchmal ist es, als ob er direkt vor mir stünde.“ Auch kann er Sterbende angstfreier und spirituell entspannter begleiten: „Sterben ist eine heilige Zeit.“
Dabei wertet Biesinger seine Nahtod-Erfahrung durchaus nicht als Gottesbeweis, „da ist der Theologieprofessor in mir ganz streng“. Schließlich habe er Gott nicht gesehen. „Ich wollte ja, aber es hat nicht geklappt.“ Ihm ist klar, dass er sich die ganze Zeit im Diesseits befand und dass das, was er gesehen, gehört und gefühlt hat, in seinem Gehirn ablief. „Wenn man bei Sterbenden die Gehirnströme misst, stellt man eine enorm hohe Hirnaktivität fest.“ Manche interpretierten das als Zeichen, dass das Hirn unter Stress ist, weil im Körper gerade alles durcheinanderläuft. „Man kann aber auch vermuten, dass der Mensch in diesem Moment in einen anderen, erweiterten Bewusstseinszustand übergeht.“
Genauso jedenfalls hat Biesinger das erlebt und beschreibt es nicht als Traum oder Halluzination, sondern eben als „anderen Bewusstseinszustand, den ich noch nie so erlebt habe“. Steuern konnte er diesen Zustand nicht, nur genießen. „Und mir ist eine Gottessehnsucht geblieben, ein Heimweh nach diesem großen Glück.“ Das alte christliche Bekenntnis, dass unsere eigentliche Heimat im Himmel ist, „das habe ich so erlebt“. Wenn Biesinger heute mehr Sport macht als früher und mehr auf seinen Körper achtet, dann nicht, um den Tod möglichst weit hinauszuzögern. „Ich will nicht jetzt sterben, aber wenn ich es müsste, würde ich gern wieder auf dieses große Glück zugehen – ohne den Schmerz des Abschiednehmens herunterzuspielen.“
Nicht jeder kommt gut zurück
Hat er jetzt auch konkretere Vorstellungen über das, was uns dann erwartet? „Ich habe mich losgelöst von meinem Körper erlebt“, sagt Biesinger. „Deshalb gehe ich nicht davon aus, dass ich am Jüngsten Tag in meinem Körper weiterlebe.“ Außerdem habe er „einen Schub an Bewusstsein erlebt, Glück, kein Gericht“. Und er blieb ganz er selbst. „Ich bin überzeugt, dass ich all das, was mich ausmacht, mitnehme in die geistige Welt, in das neue Universum, in das ich dann eintauche, wie immer das auch aussehen mag.“
Ist eine Nahtod-Erfahrung also ein Geschenk? „Nicht für alle“, sagt Biesinger. „Manche Menschen kommen nicht gut zurück, fühlen sich unverstanden, werden regelrecht aus dem Leben geschleudert, können nicht mehr arbeiten, sogar Familien zerbrechen.“ Aber das sei eher die Ausnahme. „Vielen geht es wie mir, dass sie ohne Angst vor dem Tod glücklicher leben können.“
Und Lazarus, den Jesus von den Toten zurückholte? Was er gesehen und erlebt hat, weiß niemand. Auch nicht, wie er weiterlebte; sein Name taucht biblisch nie wieder auf. Nur Legenden erzählen, dass er unter Kaiser Domitian als gläubiger Christ enthauptet wurde; oder vielleicht Bischof in Larnaka auf Zypern war; oder vielleicht auch Bischof in Marseille. Oder in Betanien Jahre später friedlich entschlief.
Susanne Haverkamp