Hat Jesus tatsächlich geheilt?
Ein wahres Wunder
Der Evangelist Markus beginnt sein Buch mit Geschichten über Heilungen Jesu. Viele halten das für reine Fantasie. Doch Bibelwissenschaftler sind sich einig: Jesus hat tatsächlich geheilt. Nur: Waren es deshalb auch Wunder?
Mit dem Einsetzen der historisch-kritischen Bibelauslegung im 19. Jahrhundert war für viele Theologen klar: Die Wunder Jesu haben nie stattgefunden. Denn die Heilungsgeschichten der Bibel sind genauso aufgebaut wie griechische oder römische; ändert man Namen des Heilers und Krankheit, sind sie identisch. Das galt als Beleg dafür, dass die biblischen Geschichten nach antikem Muster erfunden wurden.
Heute sehen die Bibelwissenschaftler das wieder anders. „Die Tatsache, dass es sich um eine schematische Darstellung handelt“, schreibt etwa Alfons Weiser, „bedeutet nicht schon, dass das Ereignis in keinem Fall eine historische Grundlage hat.“ Anders gesagt: Auch wenn die Geschichte mit typischen Formulierungen erzählt wird, die sich auch anderswo finden, können sie einen historischen Kern haben. Und dass auch andere Wundertäter überliefert sind, bedeutet nicht, dass Jesus keiner war.
Auch für den Neutestamentler Gerd Theißen ist es plausibel, dass Jesus Heilkraft besaß – schon allein wegen der Fülle an Quellen, die davon erzählen, etwa der römische Geschichtsschreiber Josephus. Dass die Geschichten in den Evangelien nach bestimmten sprachlichen Mustern geformt sind, dass es eine Tendenz zur Steigerung des Wunderbaren gibt und dass manche Geschichten symbolisch überhöht werden, ändert nichts daran, dass Jesus Heilungen vollbrachte. Theißen sagt aber auch: „Es sind nur allgemeine Züge einer Heilungs- und Exorzismustätigkeit Jesu historisch gut bezeugt, nicht die Geschichtlichkeit jeder einzelnen Erzählung.“
In noch einem sind Bibelwissenschaftler sich einig: Die Heilung der Schwiegermutter des Petrus aus dem heutigen Evangelium hat einen historischen Kern. Es ist sogar die biblische Heilung, die am sichersten auf eine tatsächliche Begebenheit zurückgeht. Alfons Weiser schreibt: „Simon Petrus war einer der bekanntesten Männer für die urchristliche Gemeinde. Kein Zweifel, dass die konkrete Angabe im Text eine geschichtliche Erinnerung verbürgt, die bis in die Zeit Jesu zurückreicht.“
An der Geschichte sieht man aber auch: Jeder Evangelist erzählt sie etwas anders. Markus ordnet sie ganz vorne ein in seine Beschreibung eines typischen Tages in Kafarnaum. Bei Matthäus (8,14-15) steht sie viel später, und er reduziert sie auf das Wesentliche: nur Jesus und die Kranke, keine Begleiter, nur eine kurze Berührung; Lukas (4,38-39) steigert das Wunder: Bei ihm hat die Frau „hohes Fieber“, und er berührt sie nicht, sondern „befahl dem Fieber zu weichen“. Heilen ohne Berührung nur mit Worten – das galt als noch größere Tat. Doch trotz der konkreten Unterschiede: Dass Jesus irgendwann irgendwie die Schwiegermutter des Petrus heilte – das ist historischer Kern.
Nur eine Heilung oder ein Wunder?
Aber: War die Heilung auch ein Wunder? Dazu muss man wissen, was die Bibel Wunder nennt – und das ist etwas anderes als in unserem heutigen Sprachgebrauch. Wir sprechen von einem Wunder, wenn eine Heilung naturwissenschaftlich nicht erklärbar, außergewöhnlich, medizinisch aufsehenerregend ist. Die Menschen in biblischer Zeit hatten keine Vorstellung von Naturgesetzen, und ihnen ging es beim Wunder auch nicht um besonders Außergewöhnliches und Aufsehenerregendes. Für sie war ein Wunder ein kleineres oder größeres Ereignis, bei dem gläubige Menschen die Wirkmacht Gottes spürten. Wenn jemand merkte, dass Gottes Heil mehr als sonst gegenwärtig ist und Kraft gibt – dann ist nach biblischer Auffassung ein Wunder geschehen.
So gesehen sind die Heilungen Jesu eindeutig Wunder. Denn in Jesus und durch ihn ist Gottes lebenspendende Kraft offensichtlich besonders spürbar. Doch interessanterweise verweist Jesus nirgendwo auf seine Kraft, er verweist immer auf die Kraft der Geheilten selbst. „Dein Glaube hat dir geholfen“, sagt er oft. Soll heißen: dein Vertrauen, deine eigene innere Kraft und Stärke. „Jesus hat die heilende Macht des Glaubens entdeckt“, sagt der Neutestamentler Gerd Theißen. „Dein Glaube, nichts anderes hat dich geheilt.“ Oder vielleicht noch der Glaube der Helfer, der Angehörigen und Freunde. Wie bei dem Gelähmten, den seine Freunde durch ein abgedecktes Dach zu Jesus herabließen. „Als Jesus ihren Glauben sah ...“, betont Markus (2,5). Und andersherum: Ohne den Glauben der Patienten geht nichts. Wie in Nazaret. Dort konnte Jesus „kein Wunder tun“ (Markus 6,5).
Gibt es heute noch die Wunderkraft?
Ja, Jesus war ein Heiler, und viele Menschen seiner Zeit glaubten an seine Heilmacht. Die Begegnung mit ihm brachte sie wieder auf die Beine, erfüllte sie mit Lebenskraft, machte sie heil an Leib und Seele. Und das tatsächlich, nicht nur symbolisch. Das waren Wunder in den Augen seiner Zeitgenossen, und davon erzählen die Evangelien. Ja, manchmal mit Übertreibungen und immer im Nachhinein, also schon im Glauben an die Auferstehung und daran, dass Jesus Gottes Sohn ist – was zu Beginn seines Wirkens ja noch niemand wusste. Das „im Nachhinein“ überhöht so manches Wunder – und mitgeschrieben hat damals sowieso niemand. Aber dass Jesus tatsächlich und historisch Menschen heilte, das ist wahr.
Und was haben die Heilungen von damals mit uns heute zu tun? Nun: Manche glauben, dass sogar in unserer naturwissenschaftlich geprägten Zeit in manchem Kranken die heilende Kraft des Glaubens schlummert und dass es deshalb solche Wunder heute noch gibt.
Von Susanne Haverkamp