Anstoss 29/2018
Eine goldene Regel
Ich sitze im Wartezimmer und werde unfreiwillig Zeuge, wie ein Mann um die 50 mit der Sprechstundenhilfe um seine Behandlung streitet. Er ist nicht damit einverstanden, dass die Kasse ihm eine Zusatzleistung verweigert.
Schließlich hat er sein ganzes Leben eingezahlt. Und dann kommt das Totschlagargument: „Aber wenn so ein Kanake kommt, ist Geld da.“
Der Mann hat nicht auf dem Schirm, dass gerade er jemand ist, der von unserem guten Sozialsystem profitiert. Seine teure Behandlung kostet jeden Monat viel mehr als er in einem ganzen Jahr in die Kasse eingezahlt hat. Schon klar, die Kanaken – wen immer er gerade dazu zählt – sind schuld.
Ich bin wirklich froh, dass die Ferien vor der Tür stehen, denn ich brauche Erholung. Nicht so sehr von der Arbeit, die mich genauso fordert wie andere auch. Ich brauche Erholung von Menschen, die nur an sich selbst denken können. Ist es nur ein Gefühl oder nimmt ihre Anzahl ständig zu? Warum fällt es uns so schwer, anderen etwas zu gönnen?
„Alles, was ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen!“ (Matthäus-Evangelium 7,12) Diese Grundregel bringt Jesus Christus ins Spiel. Sie macht deutlich, dass unser Leben aus Rechten und Pflichten besteht. Ich habe den Eindruck, wir sind heute besonders sensibel für unsere Rechte, für das, was uns zusteht. Aber die Rechte, auf die ich mich berufe, haben nur einen Sinn, wenn ich sie gleichzeitig als Pflichten begreife, die ich anderen gegenüber erfüllen muss. Sonst wähle ich einen Lebensstil auf Kosten anderer.
Eine Art zu leben, die Jesus im Evangelium mit einem breiten Weg vergleicht, der ins Verderben führt. Sich auf ein Leben einzulassen, in dem ich Rechte gleichzeitig als Pflichten verstehe, die ich anderen nicht schuldig bleiben darf, ist anstrengend. Ein schmaler Weg, von dem Jesus sagt, dass er zum Leben führt. (Matthäus 7,13f.)