"Es ist später als Du denkst"
Eine Sterbebegleitung
Peter von Felbert
Melitta Breznik schreibt in "Mutter. Chronik eines Abschieds" über das Sterben ihrer Mutter. Ein Buch, das uns klarer, weiser und gestärkt entlässt. Von Ruth Lehnen
Das ist die Geschichte von zwei Frauen, Mutter und Tochter. Als erstes fällt der Erzählton auf, diese nüchterne Stimme, ruhig, beobachtend. Es ist keine erfundene Geschichte, sondern eine Aufzeichnung, eine Chronik. Die Chronik eines Abschieds, denn als die Tochter diesmal zu Besuch kommt, ist die Zeit da, vor der sie Angst gehabt hat, die Zeit, in der die Mutter sterben wird. Die beiden fahren ins Krankenhaus, dort wird die Diagnose verkündet: Bauchspreicheldrüsenkrebs. „Komm wir gehen heim sterben“, sagt die Mutter.
Das ist die Geschichte in diesem Buch: Das langsame Schwächerwerden der Mutter, die Verrichtungen der pflegenden Tochter, ihre Gespräche, ihre Gefühle.
Das Unausgesprochene wird nun ausgesprochen
Melitta Breznik, die diese Chronik aufgeschrieben hat, ist zugleich Ärztin. Die Mutter erwartet von ihr, dass sie das Leben und das Leiden abkürzen soll, sie weigert sich. Darum werden nicht viele Worte gemacht.
Die beiden Frauen haben einerseits ein inniges Verhältnis, von der Mutter konnte die Tochter viel lernen über die Natur, über die Pflanzenwelt, davon zehrt sie noch heute. Aber es gibt auch Unausgesprochenes, tief Vergrabenes, das in diesen letzten Monaten zwischen den Frauen aufbricht. Als die Tochter noch sehr jung war, hat sie ein Kind erwartet, die Mutter hat massiv Druck auf sie ausgeübt, und die Tochter hat das Kind abtreiben lassen. Jetzt lässt sie der Gedanke an das Kind, das längst ein erwachsener Mensch wäre, nachts nicht schlafen. Sie kann der Mutter nicht verzeihen, die so viel Anteil daran hatte, dass sie selbst nicht Mutter geworden ist, dass sie sich fragt, wer wohl später an ihrem Sterbebett sitzen wird. Es ist beeindruckend und anrührend, wie Melitta Breznik die Passagen um das verlorene Kind gestaltet, wahrhaftig in der Trauer. Wahrhaftig in dem vergeblichen Versuch, Versöhnung zu finden.
Auch eine Auseinandersetzung mit dem Glauben
Melitta Brezniks Buch ist auch eine Auseinandersetzung mit dem Thema Glauben. Die Mutter ist im Alter wieder in die angestammte evangelische Kirche zurückgekehrt. Sie betet das Vater unser. Sie genießt den Besuch des Pfarrers. Die Tochter beobachtet das Ganze aus einer distanzierten Perspektive – zuletzt in Kindertagen hat sie „an einem Sakrament teilgenommen“. Und doch lässt sie sich ein, befestigt das vom Pfarrer geschenkte Hinterglasbild, eine moderne Christusdarstellung, so, dass die Sterbende sie sehen kann und sich getröstet fühlt.
Die Tochter hat der Mutter die Farbspiele der Glasfenster auf den Steinböden alter Kirchen gezeigt, die sie auf Reisen fotografiert hat, „filigrane Erscheinungen“. So wie sie ein Auge hat für das Flüchtige, das Unwirklich-Wirkliche, so begleitet sie ihre Mutter auf ihrer Reise aus dem Leben. Oft kommt sie an ihre Grenzen, fühlt sich ganz alleingelassen. Aber dann richtet sie sich auf, und beschreibt uns Lesern so, was ein Mensch vermag – gerade, wenn er dem Schweren nicht ausweicht.
Melitta Breznik: Mutter. Chronik eines Abschieds, Luchterhand Verlag, 179 Seiten, 18 Euro