Tora-Fragmente der Görlitzer Synagoge wiederaufgetaucht

Eine Tür in die Görlitzer Geschichte

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In Görlitz ging man bislang davon aus, dass die wichtigste Schrift der Synagoge in der Reichspogromnacht verbrannte. Mit der Tatsache, dass es ganz anders ist, überraschte ein evangelischer Pastor die Stadt.

Der evangelische Pastor Uwe Mader bei der Übergabe der Tora-Fragmente im Kleinen Sitzungssaal des Görlitzer Rathauses.    Foto: Pawel Sosnowski

 

Plötzlich wurde es still im Kleinen Sitzungssaal des Görlitzer Rathauses. Ratsarchivar Siegfried Hoche hatte gerade vier Rollen Pergamentpapier auf den großen Holztisch gelegt und ausgerollt. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer, der Görlitzer Oberbürgermeister Octavian Ursu und Bürgermeister Michael Wieler (Bürgermeister für Kultur, Jugend, Schule, Sport, Soziales, Bauen und Stadtentwicklung in Görlitz) waren gekommen, um zu sehen, was Pastor Uwe Mader der Stadt übergeben wollte. Was Hoche mit Archivhandschuhen ausrollte, sind überlieferte Teile der Tora aus der früheren Görlitzer Synagoge. Sie verschwanden in der Reichspogromnacht am 9. November 1938.

Rettung in letzter Sekunde
Die unglaubliche Geschichte begann mit Uwe Maders Vater Willi. Wie die Sächsische Zeitung berichtete, war dieser im November 1938 Polizeibeamter auf Probe. In der Pogromnacht sei er in die Synagoge gerufen worden und irgendwie kam er in den Besitz der vier vermutlich 300 Jahre alten Tora-Fragmente auf Pergamentpapier. Uwe Mader ist sich sicher, dass sein Vater die Seiten nicht herausschnitt, wie er der Sächsischen Zeittung erklärte: „Wer das getan hat, wusste, wo was in der Tora steht. Ein Polizeibeamter hatte in der Nacht gewiss nicht die Zeit und die Sachkenntnis, die Seiten herauszuschneiden.“ Über Willi Maders Freundin gelangten die Fragmente schließlich in den Besitz des damaligen Kunnerwitzer Pastors Bernhard Schaffranek. Nach dessen Tod übernahm seine Frau das besondere Erbe. Als sie 1969 den evangelischen Vikar Uwe Mader kennenlernte, schloss sich der Kreis. Nachdem sie erfuhr, dass er der Sohn des Polizeibeamten Willi Mader sei, übergab sie ihm die Fragmente mit dem Rat: „Traue niemandem.“
Auch wenn Mader zunächst nicht wusste, was er da in seinem Amtszimmer unter Tapetenrollen versteckte, beherzigte er diesen Rat. Erst kurz vor dem Tod seines Vaters erfuhr Mader Ende der 1980er Jahre von diesem, was er da aufbewahrte.
Der pensionierte 79-jährige Pastor beobachtete die Entwicklung der Synagoge und der Gesellschaft in Görlitz stets aufmerksam. Was er in jüngster Zeit sah, sprach für ihn dafür, sein Schweigegelübde zu brechen und die historischen Dokumentteile dem Görlitzer Ratsarchiv zu übergeben. Er möchte damit auch die damit verbundene Geschichte öffentlich machen. „Die Zeit des Misstrauens ist vorbei“, so Mader.
Bei den Dokumentteilen handelt es sich um wichtige Abschnitte der Tora-Rolle aus der Görlitzer Synagoge in der Otto-Müller-Straße, die in der Reichspogromnacht wohl in großer Eile mit einem scharfen Schneidwerkzeug herausgetrennt worden sind: das Buch Genesis, Teile des Buches Numeri (35,32 bis 36,13) sowie Teile des Deuteronomiums (1,1 bis 11,6a und die zehn Gebote).
Oberbürgermeister Octavian Ursu kann es immer noch nicht fassen: „Wir sind sehr dankbar, dass wir solch einen wertvollen historischen Schatz für unser Ratsarchiv bekommen haben. Nach Inventarisierung und Aufarbeitung der mit den Dokumentteilen verbundenen Geschichte werden wir in enger Absprache mit jüdischen Vertretern Sachsens eine Ausstellung der Tora-Teile für die Öffentlichkeit vorbereiten.“

Neues Wunder in Görlitzer Geschichte
Ministerpräsident Michael Kretschmer ergänzt: „Die Teile der Tora-Rolle sind wie eine Tür in die Görlitzer Geschichte der vergangenen Jahrzehnte, die sich nun öffnet. Herzlichen Dank für das große Vertrauen von Pfarrer Mader und seiner Familie.“ Kretschmer lobte Pfarrer Uwe Mader als eine „moralische Instanz“ und betonte, wie viel der Pfarrer durchgemacht habe. Wenn er jetzt Vertrauen in den Staat, in dessen Institutionen und in die Stabilität der Verhältnisse habe, dann bedeute das gerade in diesen Zeiten viel, wo die Gesellschaft so zerrissen ist.
Ratsarchivar Siegfried Hoche bezeichnete es als ein weiteres Wunder, welches die Stadt Görlitz in ihrer Geschichte erleben darf – in einer Reihe stehend mit der Nichtzerstörung der Stadt im Zweiten Weltkrieg, der Altstadtmillion und der Bewahrung der Görlitzer Synagoge.

(pmg/sz/tdh)