Katholisches Forum Erfurt beschäftigt sich mit Einwanderung
„Einwanderung ist nötig“
Bildungsreferentin Michelle Dylong moderierte. |
„Die Leistungen von Einwanderern müssen stärker anerkannt werden. Es waren die so genannten Gastarbeiter der 50er und 60er Jahre, die Deutschland mit aufgebaut haben“, betonte Ulrich Kober, Direktor des Programms Integration und Bildung der Bertelsmann-Stiftung bei einer Onlineveranstaltung des Katholischen Forums im Lande Thüringen. Sie stand unter dem Thema „Besser als ihr Ruf: Willkommenskultur in Deutschland nach der ,Fluchtkrise‘“. Zwar seien zwei Drittel der Gastarbeiter wieder in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt, doch viele sind geblieben und sind mit ihren Nachkommen heute fest in der Gesellschaft integriert. Ulrich Kober erinnerte an das Forscherehepaar Uğur Şahin und Özlem Türeci, deren Eltern aus der Türkei kamen, und die in Deutschland den ersten Impfstoff gegen Sars Covid 19 entwickelt haben.
Der Begriff Willkommenskultur stand zu Beginn der großen Fluchtkrise im Mittelpunkt. Doch er ist älter. Mit dem Jahr 2009 – in dem es erstmals mehr Wegzüge als Zuzüge nach Deutschland gab – sei es zu einem Umdenkungsprozess gekommen. Um Fachkräfte aus dem Ausland zu gewinnen, so der Referent, sollte die Willkommenskultur helfen. Im Jahr 2015 wurde der Begriff allgemein und wurde zum Ausdruck breiter Hilfe den Geflüchteten gegenüber. Ulrich Kober: „Wir alle haben noch die Bilder im Kopf, beispielsweise vom Münchner Hauptbahnhof. Die Bahnsteige waren voll mit Menschen, die zur Begrüßung gekommen waren.“ Die britische Zeitung The Guardian wunderte sich darüber und fragte, was denn plötzlich mit den Deutschen los sei. In einem Kommentar wurde gefragt, ob die Willkommenskultur irgendwann in die englische Sprache übernommen wird. Ähnlich wie beispielsweise Kindergarten oder Katzenjammer.
Mit dem Silvester in Köln und vielen anderen großen deutschen Städten, in der es zu Übergriffen auf Frauen und Gewalttaten durch geflüchtete Männer kam, sei die bis dahin positive Stimmung gekippt. So radikalisierte sich die 2013 gegründete AfD und wurde 2017 in den Bundestag gewählt. Insgesamt, so der Referent, kann jedoch das Fazit gezogen werden, dass die wahrgenommene Willkommenskultur in Deutschland inzwischen relativ robust und jung sei. Einwanderer, so Umfragen der Bertelsmann-Stiftung, seien mehrheitlich willkommen. Allerdings sei die Aufnahmebereitschaft für weitere Geflüchtete nach der Krise im Jahr 2015 deutlich zurückgegangen, sie steige aber mittlerweile wieder an. Weiter zeigte sich: „Je jünger die Befragten, um so offener sind die Haltungen.“
Die Zukunft der Willkommenskultur machte Ulrich Kober am Populismus und am demografischen Wandel fest. Letzterer zwinge gerade dazu, sich für Einwanderung und Willkommenskultur zu öffnen. Die Bertelsmannstiftung gehe davon aus, dass um die 260 000 Einwanderer nötig seien, damit die Bundesrepublik ihren wirtschaftlichen und sozialen Stand relativ halten kann. Im Moment sei es so, dass das Land vor einer Welle von Renteneintritten stehe, die es in dieser Höhe noch nie gab. Die Geburtenjahrgänge zu Beginn und in der Mitte der 1960er Jahre waren in Ost und West sehr stark. Das, so Kober, habe Auswirkungen auf die Finanzierung der Rente, auf das Gesundheitssystem, die Pflege.
Sicher in Deutschland leben können
Kober forderte dazu auf, die Skepsis gegenüber der Einwanderung und Migration durch eine besser Steuerung und Gestaltung zu überwinden. Zugleich komme es darauf an, die Attraktivität Deutschlands für Fachkräfte zu erhöhen. Wozu auch gehört, dass die Diskriminierung bekämpft wird. Zuwanderer müssten spüren, dass sie willkommen sind und sicher in Deutschland leben können. Weiter müsse die Integration in Bildung, Arbeit und Gesellschaft sowie der Zusammenhalt verbessert werden. Gelingt all dies, so könne der demografische Wandel zu einem positiven Treiber der Willkommenskultur werden.
Doch was ist mit dem Populismus, der der Willkommenskultur entgegen steht? Was sagt dieser Begriff eigentlich? Ulrich Kober: Er sieht das Volk als homogene Masse, er fordere Volkssouveränität, was bedeute, dass nicht das gewählte Parlament und die Regierung die Gesetze verabschieden, sondern dass das Volk via Entscheid bestimmen soll und er sieht in der Politik und anderen gesellschaftlichen Bereichen das Etablissement am Werk, das er verabscheut. Aktuelle wissentschaftliche Untersuchungen würden allerdings davon ausgehen, dass der Populismus seinen Höhepunkt hinter sich habe und langsam zurückgehe. Ulrich Kober: „Populismus ist kein Selbstläufer. Waren noch 2017 rund 20 Prozent und im November 2018 sogar 33 Prozent ,populistisch‘ eingestellt, so waren es im Juni 2020 rund 21 Prozent.“
In der Diskussion ging es unter anderem um die Frage, ob das Abwerben von Fachleuten aus ärmeren Ländern nicht unsolidarisch sei? Gebiete es nicht die christliche Ethik, diese in ihren Ländern zu belassen? Kober wies darauf hin, dass derzeit die meisten Einwanderer aus anderen EU-Staaten komme. Was ebenfalls zu ethischen Verwerfungen wie jüngst in der westfälischen Fleischindustrie führen könne. Es müsse sicher gestellt werden, dass Einwanderer faire Bedingungen in Deutschland vorfinden. Im übrigen kommen die meisten Einwanderer aus der Europäischen Union. Aber, so der Referent, ohne Zuzug aus Drittländern geht es nicht. In den Philippinen beispielweise würden mehr Pflegekräfte ausgebildet, als das Land eigentlich brauche. Und die Überweisungen von Geld an die Familien in den Herkunftsländern überrage die Entwicklungshilfe. Es komme darauf an, dass das Herkunftsland, das Einwanderungsland und der gekommene Mensch gleichermaßen profitieren könne.
Nächste Online-Veranstaltung des Katholischen Forums und der Landeszentrale für politische Bildung am 18. Februar ab 18 Uhr. Dabei wird das Buch „Die verdrängte Zeit: Vom Verschwinden und Entdecken der Kultur des Ostens“ vorgestellt. Info unter:
bildungswerk@bistum-erfurt.de
Von Holger Jakobi