Anstoß 27/21
Entdecken statt suchen
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Achtsamkeit. Dieses Wort ist zurzeit in fast aller Munde. Es hat Hochkonjunktur, wird geradezu inflationär gebraucht. Es ist kein neues Wort. Früher, also damit meine ich jetzt die Zeit meiner Kindheit, sollten wir auch achtsam sein.
Zum Beispiel mit den Sammeltassen, damit sie beim Abwasch nicht kaputt gingen. Oder den Milchbeuteln, die schnell ein Leck bekamen und sich dann tröpfchenweise ihres Inhalts entledigten und im schlechtesten Fall das Innenleben einer Einkaufstasche ruinierten. Oder den weißen Strumpfhosen, dass diese es noch im makellos sauberen Zustand in den Sonntagsgottesdienst schafften. Den achtsamen Umgang mit irgendetwas gab es also auch schon damals, nur hieß es da kurz und knapp: pass auf!
Aufpassen. Das hat etwas mit Aufmerksamkeit zu tun. Und diese steht vor der Achtsamkeit, deren Berechtigung ich keinesfalls schmälern möchte. Aufmerksamkeit – das habe ich vor einigen Wochen geübt. Ich war – wieder einmal – in einer Schreibwerkstatt, dieses Mal in Bad Urach. Die Aufgabe an einem Nachmittag war, mal für zwei Stunden ins Städtchen zu gehen und aufmerksam für das zu sein, was einem da so begegnet. Dieses dann aufschreiben und einen eigenen Gedanken dazu schreiben. In einem, höchstens drei Sätzen. Was ich dabei lernte, war, dass es beim Aufmerksamsein nicht darum geht, etwas zu suchen, sondern etwas zu entdecken. Es war tatsächlich eine Entdeckungsreise, von der ich gern eine Kostprobe gebe: 1. Egal in welcher Stadt man ist, sie stehen überall vor den Schreibwarengeschäften oder Lädchen, die neben Zeitungen und Zeitschriften auch Tabak, Kaugummis und Lottolose verkaufen: die Ständer voller Ansichts- und Spruchkarten. Und das im digitalen Zeitalter. Totgesagte leben länger. 2. Weil die Passanten immer an den Stellen schnell die Straße überquerten, wo sie gerade frei war, hatte der Zebrastreifen etwas von der Tragik des Nichtgebrauchtwerdens. 3. (mein Favorit) Vor vielen Lebensmittelgeschäften stehen Regale, in denen Blumen zum Verkauf angeboten werden. Besser kann man es nicht sagen, dass der Mensch nicht allein vom Brot lebt.
Andrea Wilke, Erfurt