Stephan Auth hat als Betroffener bei der Aufarbeitungskommission im Bistum Fulda mitgearbeitet
Er möchte konkrete Schritte sehen

Foto: Bistum Fulda/Burkhard Beintken
„Missbrauch ist kein Thema aus der Vergangenheit“, erklärt Stephan Auth.
Stephan Auth ist froh und erleichtert. Vier Jahre zeitintensiver und emotional anstrengender Arbeit sind beendet. Er hat Betroffenen von sexueller Gewalt zugehört, wenn sie erstmals nach Jahrzehnten von ihrem Leid erzählt haben, Akten gesichtet, die meist unvollständig waren, und Zeitzeugen befragt, die Mut hatten, von eigenem Fehlverhalten zu sprechen. Als Vertreter der Betroffenen hat er in der unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Bistum Fulda am Abschlussbericht mitgearbeitet.
Sein Fazit: „Ich bin sehr zufrieden mit dem Ergebnis. In dem Abschlussbericht gibt es keine Verharmlosungen. Das Leid der Betroffenen wird anerkannt und systematische Ursachen werden benannt. Ich glaube der Bistumsleitung, dass sie sich um eine ernsthafte Aufarbeitung bemüht. Der Bericht wurde von vielen gelesen. Die Zusammenarbeit war mit allen Beteiligten sehr vertrauensvoll“, sagt er.
Als er gefragt wurde, ob er sich einbringen möchte, bereit sei, sich dem Thema sexueller Missbrauch noch einmal zu stellen, hat er nur kurz überlegt. „Für mich war es die Chance, noch einmal konstruktiv das Thema Missbrauch anzugehen, mich aktiv damit zu beschäftigen, Dinge besser zu verstehen, Vorschläge zur Verbesserung zu machen und so zu etwas Gutem beitragen zu können“, erklärt Auth, der beruflich in der Lehrerausbildung tätig ist.
Aus etwas Schlechtem, etwas Gutes machen, das hat Auth motiviert. Das Schlechte und Böse, das hat er selbst im Bistum Fulda erfahren. Der ehemalige Ministrant war Mitte der 1980er-Jahre in Großenlüder engagiert. Dort tritt Pfarrer Erwin B. seinen Dienst an, der sich sehr für die Jugendarbeit einsetzt. Mit14 Jahren macht Stephan Auth mit Pfarrer Erwin B. eine Reise. Zwei andere Jungen sind dabei. Sie übernachten in einem eigenen Zimmer, während Auth sich zu seiner Verwunderung das Zimmer mit dem Pfarrer teilt. Dort wird der Geistliche übergriffig. Auch andere Jugendliche aus der Pfarrei berichten später, dass der Pfarrer sie befingert habe.
Der Täter wird nach Kassel versetzt
1990 nimmt Stephan Auth all seinen Mut zusammen und berichtet der Bistumsleitung, was der Pfarrer getan hat. Sein Ansprechpartner ist Weihbischof Johannes Kapp. Der handelt aber nicht so, wie es der junge Mann erwartet hatte. Pfarrer Erwin B. wird nicht angezeigt oder auch nur entlassen, sondern nach Kassel versetzt. Es ist das typische Vorgehen von Verantwortungsträgern der katholischen Kirche. Jede dieser automatischen Entscheidungen vom Schreibtisch weg hatte für den oder die Einzelne jedoch lebensverändernde Konsequenzen. So auch in Kassel. Die Mutter eines elfjährigen Jungen zeigt Pfarrer Erwin B. in Kassel an. Dieser wird verurteilt. Es kommt auch zu einem Verfahren gegen Weihbischof Kapp. Doch wegen zu geringer Schuld wird dieses eingestellt.
Juristisch ist dieser Fall geklärt. Doch auch moralisch? Stephan Auth sieht nicht nur den Weihbischof, sondern auch Bischof Johannes Dyba in der Verantwortung. „Es gibt versteckte Hinweise, dass er etwas gewusst hat. Für mich ist alles andere nicht glaubhaft. Wenn er aber wirklich nichts gewusst haben sollte, dann frage ich mich: Warum? Hat er sich nicht dafür interessiert, wie es seinen Gemeinden und seinen Priestern geht? Wie hat er mit seinem Weihbischof kommuniziert? Es stört mich, dass es in Fulda immer noch Fans von ihm gibt“, ärgert er sich. Auth erinnert sich auch an das Gespräch mit der Mutter des Jungen aus Kassel zum Täter-Opfer-Ausgleich. Neben ihm war auch Bischof Dyba dabei. Die Geschehnisse empören Stephan Auth noch heute. „Nicht einmal hat er danach gefragt, wie es dem Jungen geht. Da war keinerlei Mitgefühl. So handelt doch kein Seelsorger“, sagt er fassungslos.
Es vergehen mehr als 30 Jahre, bis diese Taten vom Bistum anerkannt, Fehlverhalten und Verantwortlichkeiten klar benannt werden. Stephan Auth ist ob der langen Zeit allerdings keinesfalls frustriert. „Es hat sich viel zum Positiven gewendet. Ich habe gesehen, dass Veränderung stattgefunden hat. Vor 30 Jahren war es in Großenlüder provokant, über den Pfarrer zu sprechen. Heute verstehen die Menschen die Problematik. Es gibt jetzt klare Handlungslinien, was zu tun ist, wenn Vorwürfe aufkommen“, erklärt der Mitarbeiter in der Kommission.
Auth fordert, dass im Bistum die Arbeit jetzt weitergehen muss. Seine wichtigsten Punkte: Betroffene sollten zeitnah einen Termin zum Gespräch bekommen. Die finanzielle Anerkennung von Leid, die Unterstützung bei therapeutischen Maßnahmen sollten unbürokratisch erfolgen. Es muss in den Pfarreien Kommunikationsstrukturen geben, damit die Menschen wissen, wohin sie sich bei Konflikten wenden können. Die Prozesse im Bistum müssen transparent sein. Es muss Feedback-Strukturen geben. „Ich möchte sehen, dass das Bistum konkrete Schritte unternimmt“, erklärt Auth. Wichtig ist ihm auch, dass die Kriterien zur Anerkennung des Leids noch einmal überprüft werden. „Bei den Gesprächen müssen psychologische Prozesse beachtet werden. Manchmal gibt es Lücken oder Widersprüche in den Erzählungen. Wie gehen wir damit um? Das müssen wir klären“, sagt er.
In den Gemeinden wünscht er sich eine Erinnerungskultur. Noch laufe das Thema etwas „unter dem Radar“, da die Pfarreien sehr mit der Neustrukturierung beschäftigt seien. „Es gibt Betroffene und Mitwissende in den Gemeinden. Viele leiden noch heute. Gerüchte und offene Fragen beschäftigen die Leute. Es ist oft noch schwierig, ins Gespräch darüber zu kommen, was passiert ist. Es gibt keine Strategien oder geeignete Formate. Hier sind Mut und Unterstützung vonseiten des Bistums nötig“, denkt Auth. Er ist überzeugt, dass Missbrauch kein Thema der Vergangenheit ist: „Wir müssen verstehen, was passiert ist, damit Heranwachsende in Zukunft besser geschützt sind.“
„Die Weihe ist ein Risikofaktor“
Es müsste sich auch auf weltkirchlicher Ebene etwas tun. Auth denkt an eine andere Haltung gegenüber der Sexualität, dem Zölibat oder der Stellung des Priesters. Hier hat er allerdings keine großen Erwartungen. „Bei diesen Themen ist das Bistum nicht der Adressat. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass große Systeme träge sind. Damit hier nachhaltige Veränderung gelingt, müssen sich Bündnispartner in der Weltkirche zusammentun“, sagt der Familienvater.
Die Überhöhung des Priesters sei in der Vergangenheit eine Ursache dafür gewesen, dass Missbrauch stattgefunden und lange nicht aufgedeckt wurde, denkt Auth. Seine herausragende Bedeutung als heiliger Mann sei ein Risikofaktor gewesen. Durch die Weihe sei der Mensch verschwunden und die Persönlichkeit habe eine neue Qualität bekommen. Heute müsste man aber einen ganz neuen Blick auf den Beruf und seine Risiken werfen. „Priester müssen sich rechtfertigen. Das nagt am Selbstverständnis und sorgt für große Unsicherheiten, Druck und wenig Zufriedenheit. Auch hier muss es Hilfsanker geben“, schlägt Auth vor.
Er ist trotz seiner eigenen Erfahrungen und all den erschütternden Berichten, die er in den Arbeitskreisen gehört hat, Mitglied der katholischen Kirche. „Meine Familie hat von ihren Angeboten profitiert. Daher bin ich nie ausgetreten. Ich denke, dass sie wichtig für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist. Sie hat eine starke soziale und ethische Kraft. An Gott glaube ich aber nicht mehr“, sagt er.
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