Philosophisches Café diskutiert über Erinnerungskultur
Erinnern – wozu und wie?

Foto: Lisa Discher
v.l.: Die Professoren Harald Kerber, Reinhold Mokrosch, Arnim Regenbogen und Elk Franke haben gemeinsam mit etwa 100 Gästen zum Thema Erinnerung gesprochen. Diskutiert wurde an einem Sonntag im Osnabrücker BlueNote Café. (Foto: Lisa Discher)
Vier ältere Herren sitzen an diesem Sonntagvormittag in einem Osnabrücker Café auf einem Podium. Ihnen gegenüber verteilt sich ein Publikum von rund 100 Gästen. Auf den Tischen stehen Kaffee, Kuchen und Kerzen. Bereits um 10 Uhr treffen die ersten Interessierten ein, frühstücken und unterhalten sich. Um halb zwölf beginnt die Diskussion.
Was bedeutet Erinnerungskultur?
Reinhold Mokrosch eröffnet die Veranstaltung mit einer persönlichen Beobachtung: Am Morgen sei er auf eine Todesanzeige gestoßen. Sie las sich wie folgt: „Wir erinnern uns an dich und mit dir.“ Das sei zwar eine andere Form des Erinnerns, als die, um die es an diesem Tag gehe. Doch im Kern sei das heutige Thema schließlich gemeinsames Erinnern. Als Beispiel nennt Mokrosch den 8. März, den Weltfrauentag. Gesellschaftlich werde dieser Tag begangen – doch wüssten viele nicht mehr genau, wie er entstanden sei. In Deutschland begann er 1911 mit den Protesten von Frauen, die für das Recht zu Wählen auf die Straße gingen. Dieses Beispiel zeige: Trotz Gedenken kann Vergessen eintreten.
Genau hier setzt Professor Arnim Regenbogen ein. „Dass wir nicht vergessen, ist für das Weiterleben unserer Gesellschaft und Kultur wichtig“, sagt er. Erinnern sei nicht nur eine private und individuelle, sondern vor allem eine kollektive Aufgabe. Es gehe um ein „Wieder-Erinnern“ – nicht als statischer Erinnerungsspeicher in Form des Gedächtnisses, sondern als aktiver Prozess.

Routine oder lebendige Erinnerung?
Doch was bedeutet es, aktiv zu erinnern? Regenbogen warnt vor der Gefahr, dass Gedenken zur bloßen Routine werde. Das sei vergleichbar damit, dass man vielleicht an Mahnmälern vorbeigehe, doch sie kaum noch wahrnehme. „Erinnerungskultur ist identitätsstiftend“, sagt der Professor. Doch dafür darf sie nicht nur noch ein Datum im Kalender sein. Ein Beispiel: Viele Menschen wüssten, dass der 27. Januar der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus sei. Doch wenn seine Bedeutung nicht aktiv reflektiert und dabei nicht auch daran gedacht werde, dass solche Schrecken nie wieder passieren dürften – dann drohe, dass solche Gedenktage zur reinen Pflichtübung verkämen.
Regenbogen stellt eine zentrale Frage: „Wie unterscheidet sich das Speichern von Wissen davon, sich an etwas zu erinnern?“ Geschichtsunterricht etwa vermittle Fakten, Daten, Ereignisse. Doch das allein reiche nicht aus. „Lernen ist nur möglich, wenn durch den Rückblick auch Neues entwickelt werden kann.“
Ein Mann aus dem Publikum meldet sich, geht zu einem der aufgestellten Mikrofone im Café und sagt, er sei Geschichtslehrer. Seine Erfahrung zeigt: „Faktenwissen reicht nicht. Die Inhalte im Unterricht müssen betroffen machen, Emotionen auslösen.“ Deshalb seien Besuche, zum Beispiel in Konzentrationslagern, so bedeutend.
Erinnern mit Emotion – „Nie wieder ist jetzt“
Die Professoren auf dem Podium stimmen dem Geschichtslehrer zu. Elk Franke greift das Mikrofon und ergänzt: „Nicht alles Erleben und Erfahren können wir in Sprache fassen.“ Besonders stark wirke das Bildhafte – die emotionale Erinnerung. Schaue man sich etwa ein altes Fotoalbum an, erlebe man die vergangenen Ereignisse ganz anders, verknüpfe sie mit dem damals Erlebten und Emotionen.
Franke richtet sich direkt an die Menschen im Café: „Vielleicht erinnern sich die Älteren unter uns sich noch an die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, ich für meinen Teil gehöre noch zu jenen, die das können.“ Er verweist darauf, wie man sich in der Zeit nach dem Krieg erinnerte: In schrecklichen Zahlen, Fakten und Fotografien. Doch erst der Film „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss" (1978) löste in Deutschland eine „andere Art des Erinnerns aus“, sagt Franke. Ein Erinnern, das nicht nur informierte, sondern bewegte und vor zukünftigem Wiederholen mahnte.
Der Zukunftsaspekt sei beim Erinnern wichtig, sagt der Professor und nennt das „Zukunftsgedächtnis“. Die Aussage „Nie wieder ist jetzt“ sei Ausdruck dieses Prinzips: Erinnern müsse in die Gegenwart und in die Zukunft wirken, um Wiederholungen zu verhindern.
Doch Erinnerungen seien nicht immer objektiv. „Es gibt auch falsches Erinnern“, sagt Franke. Kollektive Erinnerungen könnten auch Ausdruck von und vor allem Mittel zur Macht sein. Eine Frau aus dem Publikum fragt: "Wer bestimmt, wie ich mich an etwas erinnere?" Und Franke betont, dass es darum stets wichtig sei, dieses Wissen zu hinterfragen. Als Beispiel für die Gefahren von falschem Erinnern nennt der Professor Wladimir Putins Geschichtspolitik. Die verändere historische Narrative bewusst und instrumentalisiere diese. „Erinnerungen sind manipulierbar“, sagt er. Umso wichtiger sei es, sich aktiv und kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen.

Religiöses Erinnern – Mythos und Hoffnung
In den letzten Minuten der Diskussion lenkt Reinhold Mokrosch den Blick auf die religiöse Erinnerungskultur. "Alles religiöse Erinnern ist Mythos", sagt er. Doch das bedeute nicht, dass diese Art der Erinnerung falsch sei. Religiöse Erinnerung sei kein historisch überprüfbarer Fakt, sondern Form des Gedenkens, die Hoffnung stiftet. Wer Weihnachten feiere, erinnere sich nicht zwingend an ein historisches Datum. Sondern vielmehr an eine Erzählung und die Werte, die mit ihr verbunden sind.
Elk Franke bringt es auf den Punkt: „Wer einen Mythos historisiert, hat vom religiösen Erinnern und Gedenken nichts verstanden."
Erinnern heißt Verantwortung übernehmen
Die Diskussionsrunde an diesem Sonntagvormittag macht deutlich: Erinnerung ist nicht nur Rückblick, sondern immer auch Aufgabe für die Zukunft. Es reicht nicht, Gedenktage zu begehen, Fakten im Unterricht auswendig zu lernen und Denkmäler zu errichten. Erinnerungskultur muss aktiv gelebt werden – emotional, kritisch und reflektiert.
Hinweis der Veranstaltenden
Am 11. Mai feiert das Philosophische Café Osnabrück 20-jähriges Bestehen mit einem Jubiläumscafé. Hierfür ist eine Anmeldung erforderlich (bis Mittwoch den 7. Mai an: philocafe@uos.de). Bitte geben Sie die Zahl der Personen bei der Anmeldung an.
Die Veranstaltungen des Philosophie Cafés finden im BlueNote (Kinocafé im Cinema Arthouse) statt. Von zehn bis elf Uhr werden Frühstück und Getränke angeboten. Eine Reservierung hierfür ist unbedingt erforderlich unter: 0541-6006525.
Wo: Erich-Maria-Remarque-Ring 16, 49074 Osnabrück
Wann: Beginn jeweils um 11.30 Uhr, Eintritt frei