Hohe Zahl von Kirchenaustritten
Erosion von innen
Die Statistik von 2019 zeigt, wie umfassend und tiefgreifend die Probleme der katholischen Kirche sind. Mehr Menschen als je zuvor sind ausgetreten. Und von denen, die bleiben, entfernen sich auch immer mehr von der Kirche.
Georg Bätzing zeigte sich höchst besorgt. An der Kirchenstatistik für 2019 „gibt es nichts schönzureden“, sagte der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz. Die hohe Zahl der Kirchenaustritte zeige, dass sich Kirchenmitglieder noch stärker vom Glaubensleben in der kirchlichen Gemeinschaft entfremdet hätten, so Bätzing. In den 27 Bistümern verließen im vorigen Jahr 272 771 Menschen die Kirche – so viele wie nie zuvor. 22,6 Millionen Menschen gehörten der katholischen Kirche an, das sind 27,2 Prozent der Bevölkerung.
Ob der Missbrauchsskandal und der Reformstau zentrale Ursachen der neuen Austrittswelle sind, bleibt ungewiss. Denn die evangelische Kirche verzeichnet ähnlich hohe Austrittszahlen – obwohl sie in der Öffentlichkeit weit weniger mit Missbrauchsfällen in Verbindung gebracht wird und etwa Frauen Pfarrerinnen werden dürfen, wie es viele katholische Reformer fordern.
Die Statistik zeigt, wie umfassend und tiefgreifend das Problem der Kirchen ist. Es treten nicht nur viele Menschen aus; es entfernen sich offenbar auch etliche, die noch in der Kirche sind, immer weiter von ihr. Nur noch 9,1 Prozent der Mitglieder gingen zum Gottesdienst, im Vorjahr waren es noch 9,3 Prozent gewesen – und diese Werte betreffen ja die Zeit vor der Corona-Pandemie. Auch die Zahl der Taufen, der Trauungen und der Bestattungen sank.
Die rückläufigen Werte beim Empfang der Sakramente zeigten eine „Erosion persönlicher Kirchenbindung“, sagte Bischof Bätzing. Die Kirche müsse sich fragen, ob sie noch die richtige Sprache spreche, um heutige Menschen zu erreichen. Auch müsse sie nach einem erheblichen Verlust von Glaubwürdigkeit durch Transparenz und Ehrlichkeit Vertrauen zurückgewinnen.
Auch die Theologieprofessorin Julia Knop führt die hohen Kirchenaustrittszahlen auf eine „Erosion von innen“ zurück. Nachdem 2018 eine Studie zum Ausmaß des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche gezeigt habe, dass Krisen Mitglieder kosteten, habe die beginnende Reformdebatte 2019 keine Trendwende gebracht, sagte die Erfurter Dogmatik-Professorin dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Reformfähigkeit sei erst zu beweisen, betonte Knop. Die „Marginalisierung der Institution“ werde dadurch nicht aufgehalten. Die Erosion von innen treibe „sogar diejenigen aus der Kirche, denen sie etwas bedeutet“, sagte die Theologin.
„Die Grundtemperatur in der Kirche hat abgenommen“
Dazu passt, was Karin Kortmann beobachtet hat. Die Vizepräsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) sagte dem Portal domradio.de, die Kirche verliere ihre Mitglieder verstärkt in den Bundesländern, die sehr katholisch geprägt sind.
Was also tun? Der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer glaubt, die Kirche sei zu kühl. „Aus Sicht vieler Menschen hat in der Kirche die Grundtemperatur abgenommen“, sagte er im Interview dieser Zeitung. „Es ist kälter geworden.“ Das müsse sich ändern. Die Kirche müsse näher bei den Menschen sein, die Brüche oder ein Scheitern erlebt haben oder anders leben, als es die gesellschaftlichen oder kirchlichen Normen vorgeben. Wilmer betonte: „Wir Menschen brauchen Wärme.“
vbp