Gast sein ist gut. Ankommen ist Gnade.
Kein Geld in der Tasche, kein Handy, keine Kreditkarte, kein Auto, in einem Land, dessen Sprache man nicht spricht. Für die meisten Menschen wäre das ein Alptraum. Für einige wäre es ein Abenteuer. Für junge Jesuiten gehört diese Erfahrung zur „Berufsausbildung“. Das „Pilgerexperiment“ führt jeden Novizen auf den Spuren des Ordensgründers Ignatius von Loyola ins Unbekannte. Der Hamburger Dag Heinrichowski hat dieses Experiment hinter sich.
„Das ist wohl das Verrückteste, was ich in meinem Leben getan habe.“ Zwischen Lunchpaket und Französischbüchern, mit denen wir versuchen noch ein paar existentielle Vokabeln zu büffeln, fällt dieser Satz, der unsere Stimmung auf den Punkt bringt. Zusammen mit zwei anderen Jesuiten-Novizen starte ich in das sogenannte „Pilgerexperiment“.
„Pilger“, weil wir betend und zu Fuß, ohne Geld oder Handy – „wie mittelalterliche Pilger aus dem 13. Jahrhundert“, so ein junger Priester – unterwegs sind. „Experiment“, weil wir Erfahrungen machen und diese anschließend auswerten.
Das Ziel ist der Montmartre in Paris. 1534 wurde hier der Grundstein gelegt für das Projekt, das zur Gründung der Jesuiten führte. Unsere erste Etappe ist überschaubar. Wir drücken uns vor’m Betteln, denn wir übernachten bei Jesuiten in Ludwigshafen und genießen die vielleicht vorerst letzte warme Dusche sowie einen gefüllten Kühlschrank.
Von Ludwigshafen geht es
ohne Geld nach Paris
Am nächsten Tag wird es dann ernst. In einer kleinen Ortschaft starten wir mittags – nachdem wir einem Bauern schon bei der Karottenernte behilflich waren – den ersten Versuch und quatschen eine ältere Frau an, die gerade aus ihrem Vorgarten auf die Straße tritt. Wir nehmen unseren Mut zusammen, versuchen unseren zurechtgelegten Standartsatz („Wir sind Pilger und gehen zu Fuß und ohne Geld nach Paris. Könnten Sie uns mit etwas zu essen helfen?“) und haben den Überraschungseffekt auf unserer Seite: Die Dame bietet uns Geld an. Das wollen wir nicht annehmen und bekommen stattdessen die letzten fünf Scheiben Brot (die Frau wollte gerade zum Einkaufen aufbrechen), zwei Konservendosen Schweinefleisch, Käse-
ecken und Saft. Auf einem Spielplatz finden wir eine schattige Bank. Ähnlich viel Mut wie das Betteln verlangt auch das Essen des Schweinefleischs: Im Vergleich zum Brot sind es Unmengen; außerdem ist es voller Schleim, was auf dem Etikett elegant als „im eigenen Saft“ chiffriert wird.
Gestärkt geht es weiter. Bevor wir nach Speyer kommen, bitten wir noch um Wasser und bekommen dazu noch einen Ratschlag: „Zum Übernachten finden ihr bestimmt nichts. Wer nimmt schon drei fremde Männer auf und dazu noch in
der Stadt?“ Aber eine wirkliche Wahl haben wir nicht.
Nun fängt es auch noch an zu regnen und grüne Armee-Ponchos machen unser Erscheinungsbild nicht gerade sympathischer. An vielen Häusern wird uns nicht geöffnet oder die Tür schnell wieder verschlossen. Es wird kühl, wir nähern uns dem Stadtzentrum, was die Chancen auf eine Unterkunft nicht unbedingt steigert. Es ist mühsam. Doch wir haben Glück. Wir werden eingeladen, an einem Gemeindefest teilzunehmen und bekommen sogar prompt einen Schlafplatz im Keller einer Familie angeboten, inklusive Dusche, guten Gesprächen und exzellentem Frühstück.
Die nächsten Tage machen wir ähnliche Erfahrungen. Zwar werden wir auch immer wieder abgelehnt – „Diesen Trick kenne ich schon!“ – „Fangt an zu arbeiten!“ – „Ich habe keinen Platz.“ –, aber finden auch immer herzliche Gastgeber. Anfangs überlegen wir noch, ob es ein Muster gibt, wann die beste Zeit zum Klinkenputzen ist, welche Häuser geeignet sind, ob Familien mit Kindern, ältere Leute oder Alleinstehende, ob gepflegte oder überwucherte Gärten, Dorfmitte oder Randgebiete am aussichtsreichsten sind. Aber es gibt kein Muster, hinter jeder Tür, in jedem Garten können wir eine Absage oder eine Einladung finden. Mal landen wir bei einem Mann mit Zapfanlage in der Wäscheküche, mal bei einer alten Dame, die uns stolz ihre über zehntausend gesammelten Kugelschreiber zeigt. Einmal gewährt man uns Unterkunft in einer Veranstaltungshalle, wo wir erst mit dem ganzen Dorf Fußball schauen, mal bei Ordensschwestern oder in Pfarrhäusern, mal im Zelt, in der Garage oder auf dem Heuboden, im Arbeits-, Gästezimmer oder im Flur.
Wir erfahren, was die EU bedeutet: Es gibt keine Grenze
Auch tagsüber treffen wir meistens großzügige Essensspender, auch wenn das Frühstück einmal nur aus einer Packung Chips und Schokokeksen besteht. Eine Familie lädt uns an ihren Mittagstisch – die zwei Töchter haben, nach einer flüchtigen ersten Begegnung, damit verbracht, uns zu suchen, um die Einladung auszusprechen – und ein Bäcker schenkt uns Leckereien.
Nach einer Woche überqueren wir die Grenze. Wir erfahren, was die EU bedeutet: Wir erkennen die Grenzen nur daran, dass uns die Menschen plötzlich „Bonjour“ aus Autos mit ungewohnten Kennzeichen zurufen. Jetzt wird es schwerer; keiner von uns beherrscht Französisch. Natürlich haben wir uns Sätze zurechtgelegt („Nous sommes de pelerins. Nous allons a pied a Paris sans argent.“), aber die Kommunikation ist schwierig. Anfangs treffen wir auf Menschen, die Deutsch sprechen. Später freuen wir uns über jeden, der einen Brocken Englisch spricht und sind gleichzeitig erstaunt, wie viele Vokabeln wir unterwegs aufschnappen (etwa drei Weisen auszudrücken, dass man satt ist) und was mit Händen und Füßen geht.
Je länger wir unterwegs sind, desto größer wird die Zuversicht, dass am Abend eine schöne Überraschung auf uns wartet. Es ist beeindruckend, wie wenige Dinge es braucht. Manchmal ist aber die Grenze zwischen Vertrauen und Naivität sehr fließend. In einer etwas größeren Stadt suchen wir den Pfarrer auf, um ihn um Hilfe zu bitten. Er scheint nicht da zu sein, aber ein älterer Herr, der in einem alten weißen Golf auf dem Parkplatz vor der Kirche sitzt und telefoniert, wird auf uns aufmerksam und kurbelt sein Fenster runter. Wir fragen nach dem Pfarrer. Der Mann mit polnischen Wurzeln und JP-II-Bild auf dem Armaturenbrett zeigt uns die Kirche. Und auf einmal finden wir uns in einer eucharistischen Anbetung wieder.
Mangels ausreichender Französischkenntnisse, verstehen wir nicht so recht, was uns der Herr über den Pfarrer und das Gästezimmer erzählt, aber verstehen, dass wir bleiben sollen. Zwischendurch gehen wir immer wieder raus, um beim Pfarrer zu klingeln – leider ohne Erfolg. Um kurz nach acht ist die Anbetung vorüber und wir haben weder Essen noch eine Unterkunft. Doch nun öffnet sich die Tür, der Pfarrer lädt uns an seinen Tisch und in seine Gästewohnung.
Bei Regen auf einem Feld ohne Weg – kein Vergnügen
Wie so oft bleiben die positiven Eindrücke stärker in Erinnerung. Aber ein Vergnügen ist es wahrlich nicht, an einem verregneten Tag plötzlich vor einem Feld zu stehen, wo ein Weg plötzlich endet.Die Ponchos, die wir zu einem unschlagbar günstigen Preis gekauft haben, halten zwar einigermaßen trocken, aber die Getreidehalme und die stacheligen Gewächse am Wegesrand (der diesen Namen definitiv nicht verdient hat) reißen Löcher in das Plastik, sodass man meinen könnte, wir hätten mit Bären gerungen. Das Wasser kommt nicht nur von oben, sondern das Feld ist so durchnässt, dass die Schuhe klitschnass werden. Zwischen all der Nässe findet sich aber immer noch Raum in den Schuhen für unzählige Grashalme. Einen Tag früher als geplant, erblicken wir endlich Sacré Coeur.
Wir sind angekommen. Nicht irgendwo in einem Ort, sondern am Ziel unserer Pilgerreise. Es ist unwirklich, nach drei Wochen und drei Tagen, über 600 km, alles zu Fuß und ohne Geld. Gast-Sein dürfen ist ein kostbares Gefühl und Ankommen Gnade.
Text: Dag Heinrichowski SJ
Dag Heinrichowski SJ (27) ist in Hamburg aufgewachsen. Nach dem Abitur auf der Sankt-Ansgar-Schule hat er Theologie studiert. Stationen waren Sankt Georgen und das Newmann Institut in Uppsala. Mit 24 Jahren ist er in den Jesuitenorden eingetreten. Nach seinen zwei Jahren im Noviziat arbeitet er momentan in der Jugendarbeit am Canisius-Kolleg (CK) in Berlin.