Gästebücher in Kirchen

Gedanken, Bitten und Gebete

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Nicht nur aus Neugier lesen viele Menschen in Gästebüchern von Kirchen. Sie befassen sich mit den Einträgen auch, um zu schauen, ob sich das eigene Leben darin wiederfindet. Und um zu spüren: „Ich bin nicht allein“, wie der Theologe Jürgen Bärsch aus Eichstätt betont.


Gebetswünsche aus Fürbittbüchern werden oft auch in Gottesdiensten eingebracht. Foto: Kirchenbote

Eine ganz spezielle Art von Lesen und Schreiben bieten Gästebücher, wie sie auch in Kirchen oder kirchlichen Einrichtungen ausliegen. Darin notieren Menschen teils sehr private Sachen – und das für jedermann öffentlich sichtbar. Wieso Leute gerne in dem schmökern, was andere so verfassen, und wie man mit Schmierereien umgehen sollte erklärt der Theologe Jürgen Bärsch (59) von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.

Wer hat das Gästebuch erfunden?

Das Ganze ist ein religionsgeschichtliches Phänomen, das im frühen Mittelalter auftaucht. Damals hat man die Namen von Verstorbenen in Kirchenwände oder auf Altären eingeritzt, um ihrer bei der Messe zu gedenken. Später nutzte man dazu Totenbücher, sogenannte Nekrologien. Die heutigen Fürbittbücher sind gewissermaßen deren Nachfolger, in denen die Gläubigen ihre Gebetsanliegen niederschreiben können. Eine ähnliche Rolle spielen Gästebücher, in denen neben Gebetsbitten auch nichtgläubige Touristen Einträge etwa zur Kirchenarchitektur hinterlassen. Wobei Anbieter wie Nutzer die Begriffe „Fürbitt-“und „Gästebuch“ mitunter nicht klar trennen.

Warum möchten Menschen sich derart mitteilen?

Zum einen dienen Gästebücher mitteilsamen Charakteren als Möglichkeit des Ausdrucks. Zum anderen verspüren viele Leute offenbar das Bedürfnis, sich an einem Ort zu verewigen, der als heilig gilt. In Gotteshäusern lässt sich so das eigene Leben unter transzendenten Vorzeichen festmachen. Dadurch, dass mein Eintrag auch noch morgen und nächstes Jahr im Gästebuch steht, bleibt ja ein Teil von mir langfristig dort.

Gerade in Kirchen-Gästebüchern stehen oft sehr private Schicksalsschilderungen. Warum gibt man so Persönliches preis, das dann auch noch jeder Wildfremde lesen kann?

Die Menschen möchten damit sich und ihre Gedanken sichtbar machen, wohl auch, um etwas loszulassen. Für sie ist das Schreiben eine Art der Selbstvergewisserung, eine Form des Sich-selbst-präsent-Haltens – besonders in Momenten des Schwankens und der Unsicherheit. In den Kirchen dürfen sie wegen des heiligen Raumes darauf vertrauen, dass auch Leute ohne eine religiöse Prägung gewissenhaft mit ihren Notizen umgehen.

Weshalb lesen Menschen die Einträge anderer?

Sicher erst mal aus Neugier. Aber auch, um zu gucken, ob das eigene Leben sich in anderen wiederfindet. Um zu merken: Ich bin nicht allein. Auch andere haben gebrochene Wege und kennen Spannungen und Konflikte.

Was passiert mit den Einträgen?

Gebetswünsche aus den Fürbitt- und Gästebüchern werden im Gottesdienst vorgebracht. Manchmal schreibt auch jemand, der sich ums Gästebuch kümmert oder der einfach Bescheid weiß, eine Antwort zu einem Anliegen. Etwa, wenn jemand nach einem kirchlichen Beratungsangebot gefragt hat. Wenn so ein Buch voll ist, wird es meist archiviert. Einfach ins Altpapier kommt es aus Pietätsgründen wohl nicht, eher wird es auf dem Friedhof vergraben.

Und wenn Schmierereien auftauchen?

Damit muss man rechnen. So sind Menschen eben auch. Daher täte ich mich schwer mit einer Zensur. Solange sich alles im Bereich der guten Sitten und des Gesetzes befindet, sollte man keine Seiten ausreißen.

Hat sich die Gästebuch-Kultur in den vergangenen Jahren geändert, etwa wegen der Digitalisierung?

Ich glaube nicht, dass die Digitalisierung die Gästebücher verdrängen wird. Im Gegenteil, sie verdeutlicht wohl eher deren Wertigkeit und die dessen, was in die Bücher geschrieben wird.  Denn wenn ich Tinte auf Papier bringe, bringe ich ja etwas von Gewicht darauf. Das ist beim Tippen am Rechner nicht so. Inhaltlich wäre Ihre Frage auch ein spannender theologischer Forschungsansatz. Es wäre interessant, die Entwicklung etwa bei den Ansprachen der Gläubigen zu sehen: Haben sich die Leute vor etwa 50 Jahren vielleicht mehr an  konkrete Heilige gewandt und tun sie das heute eher an eine vage Form von geistlichem Wesen?

Was könnte die Kirche aus so einer Erkenntnis lernen?

Jedenfalls nicht, dass sie plötzlich ihr Profil schärfen sollte. Dazu wären die Daten wohl zu wenig eindeutig. Es ginge zunächst nur darum, Material zum Verlauf individueller Religiosität im Spiegel der Zeit zu sammeln. Da gibt es noch große Lücken und das wäre doch erst mal spannend genug.

Christopher Beschnitt