Anstoß 42/22
Getrost am Abend und am Morgen
Es war am 3. Oktober, abends, auf dem Erfurter Domplatz. Ein Mitsingkonzert beschloss die dreitägigen Feierlichkeiten zum Tag der deutschen Einheit. Ins Leben gerufen hatte dieses Konzert die Initiative „3. Oktober – Deutschland singt und klingt“. Es stimmten nicht nur Menschen in Erfurt ein.
Vielerorts in Deutschland waren Menschen an diesem Abend im Singen vereint. Ein Lied, obwohl schon gefühlte hunderttausendmal gesungen, lässt mich nicht los. „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ – wer kennt dieses Lied nicht? Es wird ja allenthalben gesungen und hat eine sehr eingängige Melodie.
Doch der Text hat es in sich: Ich war erstaunt, wie viele Menschen ihn voll Inbrunst mitsangen. Zum Beispiel wenn es heißt: „Von guten Mächten wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag“. Wir erwarten g e t r o s t, was kommen mag? Ich nehme eher ein sorgenvolles, wenn nicht sogar angstvolles Erwarten der Zukunft wahr. Inflation, Klima, Krieg in Europa...ich merke bei mir selbst, wie weit weg ich manchmal vom „getrost“ bin.
Oder die Strophe: „Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern/ des Leids gefüllt bis an den höchsten Rand./ So nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern/ aus deiner guten und geliebten Hand“. Uff! Welch kühne Zusage! Der Text erhält seine Kraft dadurch, dass er nicht in heimischer Idylle geschrieben wurde, sondern von einem, der wegen Widerstand gegen den Nationalsozialismus im Gefängnis sitzt und weiß, dass seine Überlebenschancen gering sind: Dietrich Bonhoeffer. Knapp vier Monate später, am 9. April 1945 wird er hingerichtet. Ihm glaubt man seinen Text.
Bonhoeffer benennt den Grund für seine getroste Erwartung: „Gott ist mit uns“. Spätestens als die Menge auf dem Domplatz sang: „Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag“ fühlte ich mich getragen. So etwas stärkt den Glauben und das Gottvertrauen. Seither singe ich oft dieses Lied oder ein paar Zeilen daraus, mal morgens, mal abends. Ich singe bewusst jedes Wort. Es ist, als sänge ich gegen die Umstände an, die die Sorgen befördern. Dann spüre ich in mir das „Gott ist mit uns“. Was also soll mir passieren?
Andrea Wilke, Erfurt