Der jüdische Tempel in Jerusalem zur Zeit Jesu

Gigantisches Bauwerk

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„Reißt diesen Tempel nieder“, sagt Jesus im Evangelium, „in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten!“ Empörend finden die Schriftgelehrten das. Größenwahnsinnig obendrein. Denn den Tempel zu bauen, dauerte Jahrzehnte.

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Rekonstruktion des herodianischen Tempels im Israel-Museum in Jerusalem. Foto: imago


Zur Zeit Jesu steht in Jerusalem der zweite jüdische Tempel, der vom römischen Herrscher Herodes dem Großen um- und ausgebaut worden ist. Der erste Tempel, der sogenannte salomonische Tempel, wurde bei der Eroberung Jerusalems durch die Babylonier 586 v. Chr. zerstört. Die ersten Heimkehrer aus dem Exil bauten einen zweiten Tempel, der aber baufällig war, als Herodes an die Macht kam.

Neben anderen prestigeträchtigen Bauwerken widmet er sich nun ganz der Neugestaltung des Tempels – so will er die streng-
religiösen Juden auf seine Seite ziehen und sich selbst ein Denkmal setzen.

Der Bau des inneren Tempels dauert eineinhalb Jahre, die Fertigstellung der gesamten Tempelanlage erlebt Herodes nicht mehr: Er stirbt im Jahr 4 vor Christus, die Anlage wird erst 66 nach Christus, kurz vor dem ersten jüdischen Aufstand, fertiggestellt. Doch schon zur Zeit Jesu hat er gewaltige Ausmaße – vor allem für das überschaubare Jerusalem.

Dank der biblischen Texte, den Überlieferungen der römischen Literatur, vor allem vom Schriftsteller Flavius Josephus, und der archäologischen Arbeiten seit dem 19. Jahrhundert lässt sich die Tempelanlage gut rekonstruieren. Im Jerusalemer Israel-Museum kann man ihn sogar ansehen und sich vorstellen, wozu welche Teile dienten.

 

Die Gesamtanlage:

Herodes hat die Tempelanlage in Jerusalem zum größten sakralen Komplex in der ganzen römischen Welt ausgebaut. Der römische Herrscher verdoppelt das gesamte Areal auf eine Fläche von rund 500 x 300 Metern. Im Norden grenzt die Burg Antonia (im Bild oben rechts), ebenfalls ein Bauwerk des Herodes, und der Wasserspeicher für den Tempelbetrieb (im Bild unten rechts) an die Mauer.

Der gesamte Bereich ist von einem Säulengang umgeben. Mehrere Tore und Aufgänge führen auf die Anlage, so etwa das doppelte oder das goldene Tor an der Ostseite und das dreifache Tor im Süden. Unter der Plattform Richtung Süden und Westen befinden sich mächtige Säulenhallen, die den Tempelplatz auf der Bergkuppe stützen.

Als die Römer den jüdischen Aufstand 70 nach Christus niederschlagen, werden der Tempel und alle Aufbauten auf dem Platz zerstört, die Säulenhallen im Untergrund aber bleiben erhalten. Darunter etwa die sogenannten „Ställe Salomos“ in der südöstlichen Ecke der Anlage. Zu Zeiten des Herodes waren sie vermutlich ein Speicherraum, die Kreuzfahrer stellten später ihre Pferde dort unter – daher der Name – und heute beherbergen sie die Marwani-Moschee.


Die Westmauer

Von der Tempelanlage des Herodes sind heute nur noch Teile der Umrandungsmauer erhalten. Ein Stück der Westmauer gehört dazu. Sie ist heute neben der Grabeskirche und dem Felsendom eines der drei berühmten religiösen Bauwerke Jerusalems: die Klagemauer – ein Heiligtum für die jüdische Welt.

 

Königliche Säulenhalle

Im Süden der Tempelanlage führen die Säulengänge in eine Art Basilika, die königliche Säulenhalle, die ähnlich wie die gesamte Anlage im griechischen Stil gebaut wurde. Der gesamte Tempelberg dient als Forum, diese Säulenhalle aber ist der politische und wirtschaftliche Kern der Stadt – und hier verscheucht Jesus Händler und Geldwechsler, wie das Evangelium es an diesem Sonntag berichtet. Außerdem werden in der Halle öffentliche Versammlungen, Gerichtsverhandlungen und Debatten ausgetragen.


Der Hof der Nicht-Juden

Trotz der Bedenken der jüdischen Autoritäten schafft Herodes einen großen Platz rund um den eigentlichen Tempelbezirk, den Nicht-Juden betreten dürfen. Der eigentliche Tempelbereich ist wiederum durch eine Mauer abgegrenzt. An den Aufgängen warnen Steintafeln, von denen heute noch zwei erhalten sind: „Kein Fremder darf diesen Vorhof betreten. Wer dabei ertappt wird, muss der Todesstrafe gewärtig sein, die darauf steht.“


Der innere Tempelbezirk

Der eigentliche Tempel ist ein Quadrat von rund 250 Metern Länge, der ungefähr in der Mitte des Tempelbergs liegt. Er ist in drei Bereiche unterteilt: Den ersten Vorhof dürfen nur jüdische Frauen betreten. Über Treppen und durch einen Torbogen gelangen die israelitischen Männer in ihren Hof. Noch dahinter, quasi direkt vor dem eigentlichen Tempelgebäude, liegt der Priestervorhof mit Brandopferaltar und Schlachtplätzen. Hier werden die Tiere für die Opferung geschächtet.

 

Der eigentliche Tempel und das Allerheilgste

Die Innenwände des Tempels sollen herrlich ausgeschmückt und die Außenwände mit goldenen Platten verziert gewesen sein. Der Tempel selbst ist noch einmal in eine Vorhalle und das Allerheiligste unterteilt. In der Vorhalle stehen der goldene Weihrauchaltar, der Schaubrottisch und die siebenarmige Menora. Abgetrennt durch einen Vorhang liegt dahinter das Allerheiligste. Im ersten Tempel Salomos hat hier die Bundeslade gestanden, zur Zeit Jesu war der Raum dunkel und leer. Der Tempel darf nur von Priestern, das Allerheiligste nur einmal im Jahr, am Fest Jom Kippur, vom Hohepriester betreten werden.

So verdeutlicht die Struktur und Architektur des Tempels: Er ist die Wohnstätte Gottes. Dieser heilige Bereich wird von allem Profanen abgetrennt. Die Heiligkeit steigert sich zum Inneren hin und gipfelt im Allerheiligsten, der Verbindung zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und Menschen.

Von Kerstin Ostendorf