Anstoß 30/22
Gott, ein zahnloser Tiger
In einem Artikel über die Energiepolitik der EU spricht ein Umweltökonom von einem zahnlosen Tiger.
Weil sich die EU von verbindlichen Zielen verabschiedet, stehe in den Sternen, wie die Reduzierung der Treibhausgase bis 2030 gegenüber 1990 um 40 Prozent durchgesetzt werden soll.
Mein Thema ist nicht die Energiepolitik, sondern Gott und der Glaube. Aber das Bild bleibt in meinem Kopf. Vielleicht geht es vielen Menschen mit Gott genauso. Sie halten Gott für einen zahnlosen Tiger, der nichts bewirken kann. Haben sie nicht Recht? Gott schreitet nicht ein gegen den Krieg in der Ukraine. Das Schicksal der Menschen, die in Afrika verhungern, scheint ihm egal zu sein. Die Liste von Beispielen ließe sich beliebig verlängern.
Eine mögliche Antwort auf diesen Vorwurf finde ich in einem Gebet aus dem vierten Jahrhundert: „Christus hat keine Hände, nur unsere Hände, um seine Arbeit heute zu tun. Er hat keine Füße, nur unsere Füße, um Menschen auf seinen Weg zu führen. Christus hat keine Lippen, nur unsere Lippen, um Menschen von ihm zu erzählen. Er hat keine Hilfe, nur unsere Hilfe, um Menschen an seine Seite zu bringen.“
Dazu passt, was Lukas in seinem Evangelium berichtet. Jesus schickt die Jünger dahin, wo er selbst hingehen will. (Lukas 10,1-12) Er gibt seine Sache in ihre Hände. So macht es Gott von Anfang an. Er handelt nicht an uns vorbei. Er zwingt uns seinen Willen nicht auf. Er achtet unsere Freiheit. Er setzt auf uns und vertraut uns das Wohl seiner Schöpfung an.
Wenn also der Eindruck entsteht, Gott sei ein zahnloser Tiger, könnte es daran liegen, dass sich nicht genügend Menschen finden, die ihm ihre Arme und Füße zur Verfügung stellen.