Stadtspaziergang mit Ulrich Höckner durch Anklam
Gottes Geschenke bewahren
Ein Ort zum Nachsinnen über Gott und die Welt: Ulrich Höckner am Ostsee-Strand bei Zinnowitz. Fotos: Dorothee Wanzek |
Wenn Ulrich Höckner aus seinem Wohnzimmerfenster schaut, sieht er die schwarz-weiß-rote Deutsche Reichsfahne im Garten seines Nachbarn von gegenüber. An manchen Tagen weht dort auch die Reichskriegsflagge. In dem kleinen Dörfchen vor den Toren Anklams ist besonders deutlich zu spüren, dass die deutsche Neonaziszene Vorpommern zur Modellregion auserkoren hat.
Auffallend viele Autonummernschilder zeigen mit Hitler-Zahlensymbolik, welch Geistes Kind ihre Halter sind. Ein szenebekannter Rechtsrock-Musiker lässt sein Gartengrundstück von einem massigen Bullterrier bewachen, zwei Häuser weiter wohnt ein Berufs-Türsteher bei einschlägigen Konzerten. Höckners flaggender Nachbar nutzt den ehemaligen Gemeindeschaukasten für seine oft haarscharf an der Grenze zur Strafbarkeit angesiedelten Bekenntnisse. Rechtsextreme Gesinnung geht hier längst nicht mehr mit Springer-Stiefeln und angsteinflößendem Böse-Buben-Image einher. Ein Maurer im Dorf gehören zu einem rechtsextremen Handwerker-Netzwerk, in Anklam sind Gaststätten in bester Lage und ein Altenpflege-Unternehmen in der Hand von Neonazis. Die NPD-Landeszentrale und ein Schulungszentrum befinden sich im Stadtzentrum.
An der Seite derer, die es schwer haben
Ulrich Höckner engagiert sich seit Jahren in der Kommunalpolitik – mit mäßigem Erfolg und zuweilen als Einzelkämpfer. „Nur wenige sind bereit, der wachsenden Fremdenfeindlichkeit in dieser Region etwas entgegen zu setzen. Viele erkennen überhaupt keine Gefahr“, bedauert er. „Da wissen wir doch wenigstens, wo unsere Kinder sind!“, bekam er zur Antwort, als er sich vor Jahren im Gemeinderat gegen den Neonazi-Jugendclub im eigenen Dorf aussprach. Dass Grundschüler ihre Fangspiele auf den Schulhöfen „Juden abklatschen“ nennen, sei für Kinder der Region normal, auch Lehrer sehen sich da nicht unbedingt veranlasst, einzuschreiten. Diejenigen, die wie Ulrich Höckner doch dagegenhalten, müssen mit Hass-Mails und anderen Anfeindungen rechnen oder werden – wie der Bürgermeister von Anklam – von den Anwälten der aus ganz Deutschland mitfinanzierten Szene mit Prozessen überhäuft. Ob die Demokratie-Förderprojekte, die mit umfangreicher Landesförderung in den letzten Jahren etabliert wurden, tatsächlich Frucht tragen, wird sich erst noch zeigen müssen.
Wegziehen? Aufgeben? Daran hat Ulrich Höckner vor acht Jahren einmal gedacht, als die Anfeindungen nicht mehr nur ihn allein trafen, sondern auch die Familie mit den Jüngeren seiner fünf Kinder, die damals noch zu Hause wohnten. Sie entschieden sich aber zum Bleiben, nicht zuletzt, um die Migranten weiter unterstützen zu können. Neben den Familienhilfen, der allgemeinen Sozialberatung und den Trainings für Langzeitarbeitslose gehörte die Migrationsberatung zu den Diensten der Caritas, die dem langjährigen Caritas-Regionalleiter besonders am Herzen liegen. „Geflüchtete haben es hier wirklich schwer“, das hat er selbst häufig aus nächster Nähe miterlebt. Wer nicht „typisch deutsch“ aussehe, finde kaum Wohnung und Arbeit. Am Telefon klingt noch alles verheißungsvoll, beim Vorstellungstermin kurz darauf heißt es dann plötzlich „längst vergeben!“.
Ein Begegnungsort für Menschen verschiedener Kulturen: Ulrich Höckner mit Mitarbeitern vor dem Caritas-„Umsonstladen“ Anklam. |
Bei solchen Problemen guten Rat und vor allem Begleitung zu geben, war die Aufgabe der Migrationsberatung, die Ulrich Höckner in Anklam mit aufgebaut hat. „Als Christ kann ich doch gar nicht anders als dort hinzugehen, wo Menschen in Not sind“, ist er überzeugt. „Gott hat jedem Menschen das Leben geschenkt. Wo Leben in Gefahr ist, gilt es zu helfen, so wie Jesus es vorgemacht hat. Welche Strukturen der Hilfe dabei zum Tragen kommen, scheint mir da zweitrangig.“ Er ist froh, dass sein Team diese Haltung immer mitgetragen hat.
Unter den Katholiken der Region gebe es einige, die den Zugewanderten am liebsten Rechte beschneiden und sie auf Distanz halten würden, weiß Ulrich Höckner, der ehrenamtlich seit Jahren den Vorsitz der Härtefallkommission Mecklenburg-Vorpommern führt und neuerdings in der Arbeitsgruppe Rechtsextremismus des Berliner Diözesanrats mitarbeitet. Sein Ansinnen ist es daher, auch in den Gemeinden Begegnungen zu fördern, um Ängste vor Fremden zu überwinden.
Die Caritas-Regionalstelle lädt – jedenfalls außerhalb von Corona-Lockdowns – immer wieder zum Café International ein, bietet Sprachkurse mit ehrenamtlicher Unterstützung an. In den Kirchen gibt es Feste und Aktionen, am 20. Juni erstmals auch zum Tag des Flüchtlings. Gemeindemitglieder spenden Wohnungseinrichtungen für geflüchtete Familien. Manche haben ihre Angst auf diese Weise schon verloren, sie haben entdeckt, dass die Begegnung mit Menschen anderer Kulturen durchaus eine Bereicherung sein kann. In einigen Fällen konnte Ulrich Höckner evangelische Gemeinden dazu gewinnen, von Abschiebung bedrohten Menschen Kirchenasyl zu gewähren. Katholische Gemeinden der Region lehnten das bisher ab, zumeist mit der Begründung, einer drohenden Gemeindespaltung aus dem Weg gehen zu wollen.
Was würde Jesus dem Reichsbürger sagen?
Hinter Ulrich Höckners Bleiben in Vorpommern steht nicht nur eine trotzige Jetzt-erst-recht-Haltung, sondern auch eine tiefe Liebe zur Natur, die sich in diesem dünn besiedelten Landstrich zwischen Peene und Ostseeküste in voller Pracht entfalten kann, mit uralten Bäumen, Kranichen, selten gewordenen Schmetterlingsarten. An seinem letzten Arbeitstag freuen ihn besonders die Schlehen am Wegesrand, die trotz der vorausgegangenen Kälte ihre Blüten entfalten. „Einen Gruß vom lieben Gott“ entdeckt er darin. Die Wunder der Natur mit ihrer unfassbaren Vielfalt geben ihm Kraft, stärken sein Vertrauen ins Leben.
Ein Ort, der zum Handeln herausfordert: Im einstigen Gemeindeschaukasten wird rechtes Gedankengut verbreitet. |
Der Strand ist für ihn ein besonderer Ort der Geborgenheit in Gott, mit der Weite des Horizonts eröffnet sich eine Ahnung seiner Unendlichkeit, im Kommen und Gehen der Wellen empfindet er tiefe Verbundenheit. Sein Gottesbild ist das gleiche, das sich Mose am brennenden Dornbusch erschloss. „Ich bin da!“, hörte Mose von Gott. „Das erlebe ich auch“, sagt Ulrich Höckner. Zum Beispiel, wenn er einfach nur still in der Anklamer Salvator-Kirche sitzt. Dort, wo seine Kinder zur Erstkommunion und Firmung gegangen sind, wo er als Gottesdienstbeauftragter unter der Woche schon manchen Wortgottesdienst geleitet hat, wächst in ihm das gute Gefühl: Gott ist da.
Die Architektur der Salvatorkirche erinnert ihn ein wenig an die Benediktinerkirche auf der Huysburg, wo er dieses Gefühl zum ersten Mal sehr intensiv hatte, in den 70er Jahren, bevor er den Dienst mit der Waffe verweigert hatte und sich für einige Tage hierhin zurückzog. In der Stille dieser Kirche gewann er die Gewissheit: Egal was kommt, ich bin nicht allein! Wenn er heute an Situationen seiner Caritas-Dienstzeit denkt, in denen durch Finanzierungs-Sorgen oder unüberbrückbar scheinende Gegensätze nichts mehr weiter zu gehen schien, sieht er an vielen Stellen: Gott konnte dem Leben zum Durchbruch verhelfen. Seine Liebe übersteigt alles.
Was würde Jesus heute wohl dem Reichsbürger im Haus gegenüber sagen? Diese Frage hat sich Ulrich Höckner schon öfter gestellt: „Er würde gucken, was der braucht. Und wie er dahingekommen ist. Wenn nötig, hätte er sicher auch ein paar klare Worte für ihn parat.“
Von Dorothee Wanzek