Seit 1200 Jahren feiern Christen das Feuerwunder in Jerusalem
Grabeskirche in Flammen
Qualm, Feuer, Jubel: Seit 1200 Jahren feiern Christen das Feuerwunder in der Grabeskirche in Jerusalem.
Ohrenbetäubend und schier endlos läuten die Glocken der Grabeskirche ihre unüberhörbare Botschaft: Das Feuerwunder ist vollbracht! Zusammen mit der rauchgeschwängerten Luft und Bündeln brennender Kerzen drängen sich feiernde Christen durch das Holzportal auf den Platz vor der Kirche. Erschöpfung und Freude steht in den Gesichtern der wenigen tausend Privilegierten, die dem jährlichen Wunder vor Ort beiwohnen durften. Hinter ihnen und den Tausenden Sicherheitskräften im Einsatz zu ihrem Schutz liegen Stunden der körperlichen und emotionalen Höchstleistung.
Der Weg zur Kirche: ein Hindernislauf. Die Stunden des Wartens: ein unvermeidliches Dauerbad in der Menge. Jahr für Jahr zieht die über 1.200 Jahre alte Zeremonie des "Heiligen Feuers" am Karsamstag deutlich mehr Besucher an, als die Grabeskirche fassen kann. Wer nicht eine der raren Einlasskarten mit der Aufschrift "Schabbat HaOr", Samstag des Lichts, ergattert, endet an einer der vielen Polizeiabsperrungen. Immerhin: Live auf Großleinwänden können viele das Ereignis mitverfolgen . Auch diverse TV-Sender übertragen die Feier.
In der Kirche selbst merkt man nichts von den strengen Zugangsbegrenzungen, die israelische Sicherheitskräfte gegen anhaltende Kritik mit Brandgefahr und fehlenden Notausgängen begründen. Pro Quadratmeter drängen sich ab den Morgenstunden bis zu fünf Menschen in der von polizeibewachten Metallbarrieren planquadratähnlich aufgeteilten Kirche. Stehvermögen ist gefragt.
Adrenalin- und Geräuschpegel steigt
Mit der Wartezeit steigen Adrenalin- und Geräuschpegel. Christos anesti, Alethos anesti, ertönt es auf Griechisch. Und auf Arabisch: Il-Masih qam. Haqqan qam! Christus ist auferstanden, er ist wahrhaft auferstanden! Im lauten, rhythmischen Wechsel rufen sich die Sprach- und Konfessionsgruppen die frohe Botschaft zu, unterstützt von den Trommeln und lauten Gesängen junger einheimischer Christen.
Seit jeher begleiten Bewunderung und Kritik die Feier des "Heiligen Feuers", deren Ursprünge vermutlich bis ins 4. Jahrhundert zurückreichen. Erste Berichte über das Herabfallen der Flamme vom Himmel ins Grab Christi aus der Jahrtausendwende deuten Forscher im Licht des erstarkenden Islam, gegen den sich das Christentum zu behaupten suchte. Waren zunächst auch Muslime und Katholiken Feuer und Flamme für das wundersame Geschehen am Grab Christi, wandten sie sich bald von der als Gotteslästerung und Aberglaube empfundenen Tradition ab.
Grundzüge der Beteiligung an der symbolträchtigen Feier haben sich unterdessen erhalten: Noch immer ist es ein Muslim, der das Grab vor Beginn der Zeremonie versiegelt und so zum Mitgaranten für die Echtheit des Wunders wird. Und vonseiten der Katholiken steht auch heute noch ein Franziskaner - zusammen mit seinen syrischen und koptischen Kollegen - an der Tür zur Grabkapelle, während der griechisch-orthodoxe Patriarch im Inneren für das erneute Wunder betet.
Wenn schließlich gegen Mittag die feierliche Prozession um den griechisch-orthodoxen Patriarchen einzieht, brodelt es in dem Gotteshaus regelrecht. Dreimal ziehen Patriarch und Vertreter der einflussreichsten orthodoxen Familien um das Jesusgrab, bevor der Patriarch sich bis auf sein weißes Untergewand entkleidet und das zuvor nach alter Tradition von einem Muslim angebrachte Siegel zur Grabkapelle aufbricht.
Begleitet nur von einem armenischen Vertreter, kniet er im Inneren zum Gebet an Christus, "dem Licht der Welt", nieder. Unter dem Jubel der Menge werden die letzten Lampen gelöscht. Dann wird es still. Minuten bevor beißender Qualm das Heiligtum erfüllen wird, hält die Menge den Atem an, die Kerzenbündel zum Verbreiten des Osterfeuers in den Händen.
Ein Lichtstrahl durchbricht die Stille
Dann durchbricht ein Lichtstrahl die erwartungsvolle Stille, winzig angesichts der Dunkelheit. Von da an geht alles ganz schnell. Durch kleine Fenster in der Seitenwand der Kapelle reichen die Kirchenvertreter die Flamme an die Wartenden, und binnen Sekunden verwandelt sich das Gotteshaus in ein Lichtermeer. 33 Kerzen zählt jedes Kerzenbündel, eine für jedes Lebensjahr Jesu. 33 Minuten, sagt der Volksmund, verbrennt das Feuer nicht.
Wie zum Beweis - und weil dem Feuer eine heilende Wirkung nachgesagt wird - ziehen Gläubige Arme durch die brennenden Kerzen, tauchen Gesichter in die Flammen. Ein Horrorszenario für die Sicherheitskräfte, die mit Dutzenden Feuerlöschern für die eigentlich unvermeidbare Katastrophe gewappnet sind. Dass bislang noch nie etwas Ernsthaftes passiert ist, mag als das eigentliche Wunder gelten.
Mit Verhallen der letzten Glockenschläge schwindet die größte Anspannung bei den Sicherheitskräften; die Ekstase der Gläubigen weicht Müdigkeit. Die Feiern in den Straßen hingegen werden sich bis in die späten Abendstunden fortsetzen, wenn das Feuer von Pfadfindergruppen mit Trommeln und Dudelsack zu den Gläubigen getragen wird. Unterdessen macht sich die wundersame Flamme auf den Weg nach Bethlehem, Moskau, Amman und Beirut - auch das angesichts der für die meisten Bürger der Region unüberwindlichen Grenzen ein weiteres kleines Wunder.
kna