Gebetsschule
Herr, öffne meine Lippen
Nichts soll der Mönch dem Gebet vorziehen, schreibt Ordensgründer Benedikt in seiner Regel. Wenn die Glocke läutet, hat er alles liegen zu lassen. Und auch außerhalb der Klöster findet das Stundengebet – „der kleine Gottesdienst für zwischendurch“ – neue Freunde. Zum Beispiel in einem ökumenischen Verein.
Woher komme ich? Wofür lebe ich? Wohin gehe ich? – Grundfragen des Menschseins. Für den Christen kommt in jeder Antwort Gott ins Spiel. Gut, wenn man dann mit dem Schöpfer in guter Kommunikation bleibt. Im Gebet.
Damit lässt sich das Alltagstreiben stoppen, innehalten, um sich immer wieder ein paar Gedanken zu machen übers Wesentliche – und sich rückzubinden (religere) an den unbewegten Beweger, den Schöpfer des Himmels und der Erde – dankbar, lobend, klagend, fragend …
Hierzu passt wunderbar die kürzeste Definition von Religion. Sie stammt vom Theologen Johann Baptist Metz: „Unterbrechung“. Darum geht es auch beim Stundengebet
der Kirche: den Alltag zu unterbrechen, damit Gott immer wieder Raum findet.
Im biblischen Psalm 119 steht der Impuls für den täglichen Gebetsstundenplan: „Siebenmal am Tag singe ich dein Lob und nachts stehe ich auf, um dich zu preisen.“ So hat es deshalb die christliche Gemeinschaft von Anfang an gehalten: Getreu der jüdischen Tradition wurden mehrmals am Tag Psalmen gebetet, dazu das Vaterunser und christliche Hymnen. Kirchenordnungen der frühen Kirche – zum Beispiel die „Zwölf-Apostel-Lehre aus dem frühen 2. Jahrhundert – empfehlen, das Vaterunser dreimal täglich zu beten. Im vierten Jahrhundert wird im Erinnern an Jesu Passion zur dritten (Kreuzigung), sechsten (Finsternis) und neunten Stunde (Tod) gebetet. Das Gemeinschaftsgebet ist dem Beten im stillen Kämmerlein vorzuziehen, heißt es in den „Apostolischen Konstitutionen“: „Erscheinet täglich morgens und abends zum Psalmengesang und für Gebete im Hause des Herrn; am Morgen leset den Psalm 62, am Abend den Psalm 140.“
Im Mönchtum prägt dann ab dem vierten Jahrhundert das strukturierte Gebet den Tagesablauf: Mönche werden zu „Wiederkäuern“ der Psalmen. „Ruminatio“ nennt man das halblaute meditative Murmeln der Psalmen – von 1 bis 150. Im sechsten Jahrhundert schreibt der Mönchsvater Benedikt von Nursia in seiner „Regula Benedicti“, der Mönch dürfe dem Gebet nichts vorziehen: „Hört man das Zeichen zum Gottesdienst, lege man sofort alles aus der Hand und komme in größter Eile herbei, allerdings mit Ernst, um nicht Anlass zu Albernheiten zu geben.“
Vier- oder fünfmal, in manchen Klöstern auch sechsmal am Tag zum Gebet zusammenkommen?! Da bleibt ja wirklich alles liegen. Wie soll ich denn in diesem Rhythmus vernünftig arbeiten können? So mag der weltliche Zeitgenosse sich fragen. Wer die Tagzeitenliturgie allerdings selbst praktiziert hat, der wird es wohl eher so sehen wie dieser Benediktiner: „Im Gegenteil. Erst durch diese Struktur kann ich konzentrierter tun, was jeweils dran ist. Gebet und Arbeit.“
Rückgebunden: Religion in konzentrierter Form
„Herr, öffne meine Lippen. Damit mein Mund dein Lob verkünde.“ Mit diesem Ruf beginnt jeden Tag die erste Gebetszeit: das Morgenlob, die Laudes. Und auch der Eingangsruf des Abendgebets – der Vesper – ruft Gott um Beistand an: „O Gott, komm mir zur Hilfe – Herr, eile mir zu helfen.“ Das ist Rückgebundensein – Religion – in konzentrierter Form. Wenn dann „bevor des Tages Licht vergeht“ mit dem Nachtgebet – der Komplet – alles Gelingen und Scheitern dankbar dem Schöpfer übergeben wird, lässt sich der Tag abschließen. „Gebet auf der Bettkante“ hat man seit alters her deshalb auch diesen Abschluss des Stundengebets genannt.
Wer regelmäßig Psalmtexte singt, der lernt ganz nebenbei das „freie Beten“. Denn wo ließe sich besser einüben, dass ich mit Gott auch streiten darf? Oder dass Klagen und Fluchen erlaubt sind im Zwiegespräch mit dem Schöpfer?
Zugegeben: Nicht alle Texte der Psalmen erfüllen das Herz des modernen Beters mit Freude. Viel zu viel Krieg und Feinde. Tröstlich, dass so zum Ausdruck kommen soll: Gott siegt immer. Und er ist an unserer Seite.
Das Psalmengebet hilft zudem auch dem zerstreuten oder müden Beter: Morgens um 5 Uhr die Laudes zu beten, das ist auch nicht jedermönchs Zeit. So mancher nickt im Chorgestühl immer wieder weg. In der Gemeinschaft darf er sich mittragen lassen. Dafür wird er in der Vesper lauter singen – und jenen helfen, die schon müde sind vom Tagwerk.
Ist das Stundengebet also nur was für die Spezialchristen im Kloster? Nein. Erinnert sei an die Mahnung des Paulus: „Betet ohne Unterlass!“ Daran knüpft das neue „Gotteslob“ an: „Die Kirche lädt alle Getauften ein, sich diesem Gebet anzuschließen und die einzelnen Gebetszeiten (Horen) in Gemeinschaft zu feiern.“
Längst gehört es in Kirchengemeinden zum guten Ton, regelmäßig das Morgen- oder Abendlob gemeinsam zu singen. Initiativen wie der Verein „Ökumenisches Stundengebet“ sprengen sogar konfessionelle Grenzen.
Unterbrechung. Beten ohne Unterlass. „Ehre sei dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geiste, dem Einen Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“
Johannes Becher