Wie Armut mehr und mehr die untere Mittelschicht erfasst

Hier wird viel gelacht – trotzdem

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Drei Menschen halten einander im Arm und sitzen gemeinsam auf einer Bank
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Foto: Andreas Kaiser

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Sie genießen den Zusammenhalt: Manfred Schmidt, Mo und Wolfgang Holzmann (von links)

Manfred Schmidt hat sein Leben lang gearbeitet und kommt als Rentner trotzdem mit seinem Geld nicht hin. In einer Wärmestube der Caritas findet er Hilfe, Hoffnung – und Menschen, denen es geht wie ihm

Manfred Schmidt ist kein Mensch, der zum Wehklagen neigt. Sein ganzes Leben hat er gearbeitet, mal als Kraftfahrer, mal als Möbelmonteur. So richtig gut verdient hat er nie. Seit einiger Zeit, inzwischen ist Schmidt Rentner, reicht sein Einkommen weder hinten noch vorn. Auf die simple Frage, wann er das letzte Mal im Urlaub war, muss er lange nachdenken. Zypern, sagt Schmidt dann und lacht, gut zehn Jahre sei das her: „Heute mache ich Ausflüge in kirchliche Hilfseinrichtungen.“

Für ein kostenloses Essen, etwa in der Suppenküche in Berlin-Zehlendorf, reist Schmidt (69), der in Köpenick wohnt, mit dem Rad oder öffentlichen Verkehrsmitteln schon mal quer durch die deutsche Hauptstadt. „Die Zeit dafür habe ich ja.“ Mittwochs kommt er gerne in die Caritas-Wärmestube am Berliner Bundesplatz. Dort gibt es Kaffee und Kuchen, eine Kleiderausgabe sowie eine Sozialberatung, die die Menschen beispielsweise bei ihren Anträgen auf Wohngeld unterstützt. An zwei anderen Tagen in der Woche werden in der Wärmestube kostenlose Mittagessen ausgegeben. „Durch die Mahlzeiten in den verschiedenen Einrichtungen spare ich rund 40 bis 50 Euro pro Woche“, sagt Schmidt. „Wenn ich das alles selbst einkaufen müsste, käme ich nicht hin.“ 

Außerdem trifft er am Bundesplatz viele Gleichgesinnte. „Das größte Problem für Menschen mit geringem Einkommen ist das Pflegen von sozialen Kontakten. Für Kino, Theater, mal einen Kneipen- oder Cafébesuch ist einfach kein Geld da“, sagt Schmidt. Einen Restaurantbesuch könne sich hier ohnehin niemand leisten. „15 Euro für ein Essen mit Getränk, wie soll das gehen?“, fragt er und alle um ihn herum nicken. Neben Schmidt sitzt sein Freund Wolfgang Holzmann. Und Rudi sowie ein paar andere, die aber ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchten. Sie alle treffen sich im „Café Angelika“, wie Schmidts Freunde die Caritas-Wärmestube in Wilmersdorf liebevoll nennen.

30 Jahre gibt es die Wärmestube inzwischen. Seit 2020 wird sie von Angelika Kaljic mit viel Herzblut geleitet. „Wir sind ein sozialer Treffpunkt“, sagt sie. „Wir verköstigen hier rund 50 Menschen pro Tag.“ In der Caritas-Wärmestube gibt es anders als in anderen vergleichbaren Einrichtungen keine Essensausgabe durch die Luke. „Ich finde es wichtig, dass sich die Menschen hier einfach hinsetzen und bedienen lassen können. Überall sonst müssen sie sich anstellen, in der Schlange stehen, Ellbogen ausfahren. Das ist hier nicht nötig“, sagt Kaljic. Auf ihr Bestreben hin ist die Wärmestube, die zur winterlichen Versorgung von Obdachlosen konzipiert worden war, nun auch im Sommer geöffnet.

„Am Monatsende bleibt einfach nichts übrig“

Der Bedarf an Kleiderkammern, Tafeln, Suppenküchen und anderen Sozialeinrichtungen ist zuletzt deutschlandweit gestiegen. In die Caritas-Wärmestube kommen heute längst nicht mehr nur Obdachlose, sondern auch immer mehr Menschen der unteren Mittelschicht, die wie Schmidt, Holzmann oder Rudi alle noch eine Wohnung haben und zum Teil sogar Vollzeit arbeiten. 

Dieser unteren Mittelschicht, die laut Studien zunehmend von Armut bedroht ist, gehören rund 30 Prozent aller deutschen Haushalte an. Zu ihr gehören Menschen, von denen Politiker gerne sagen, sie halten das Land am Laufen. Doch Betroffene wissen heute nicht mal mehr, wie sie ihre eigenen Heizungen am Laufen halten können – darunter Pflegekräfte, Kraftfahrer, Reinigungskräfte, Brief- und Paketzusteller. „Am Monatsende bleibt einfach nichts übrig“, sagt Holzmann. Auch Ansparungen für die private Altersvorsorge konnte sich von den Menschen, die im „Café Angelika“ sitzen, niemand leisten. Sind sie im Ruhestand angekommen, stocken viele ihre Rente mit Sozialleistungen auf.

Angelika Kaljic
Sie hilft gern: Angelika Kaljic, die Leiterin der Caritas-Wärmestube in Berlin-Wilmersdorf. Foto: Andreas Kaiser 

Obwohl das durchschnittliche Einkommen in Deutschland seit 1980 um rund 50 Prozent gestiegen ist, gibt es immer mehr Einkommensschwache im Land. Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung sind zwischen 2017 und 2021 – also noch vor der Corona-Pandemie und dem starken Anstieg der Inflation – zehn Prozent aus der unteren Mittelschicht in die Armut gefallen. Neuere Zahlen liegen noch nicht vor. Doch Experten gehen davon aus, dass sich der Trend beschleunigt hat. „Die untere Einkommensschicht verdient heute wesentlich weniger als ihre Eltern“, sagt Timm Bönke, Wirtschaftswissenschaftler an der FU Berlin. 

Besonders hart trifft es Alleinerziehende und alte Menschen, die sich nichts dazuverdienen können. Laut der Bundesregierung ist die Altersarmutsquote in Deutschland auf inzwischen 28,1 Prozent gestiegen. Den Betroffenen steht ein monatliches Einkommen von 900 Euro oder weniger zur Verfügung. Auch die soziale Ungleichheit nimmt seit Jahren stetig zu, wie zwei Beispiele zeigen. Zwar gibt es in Deutschland mit 40 Millionen Pkw mehr Autos als jemals zuvor. Doch während Wohlhabende durchschnittlich zwei oder mehr Autos ihr Eigen nennen, hat in der unteren Einkommenshälfte nur noch jeder zweite Haushalt eins.

Ähnlich sieht es auch bei der Verteilung des Wohnraums aus. Wohlhabenden stehen heute pro Kopf rund 110 Quadratmeter zur Verfügung. In der unteren Mitteschicht sind es knapp 35 Quadratmeter pro Person – in oft unzureichend modernisierten Mietshäusern. 

„Ein ruhiger Hafen auf einer stürmischer werdenden See“

Auch Schmidt nennt seine Wohnverhältnisse toxisch. Durch die dünnen Wände höre er fast jedes Geräusch seiner Nachbarn. Sogar der Qualm ihrer Zigaretten ziehe durch Ritzen zu ihm rüber. Die Wärmestube vergleicht er daher gerne mit „einem ruhigen Hafen auf einer immer stürmischer werdenden See“. 

Tatsächlich ist die Laune am Bundesplatz an diesem Nachmittag hervorragend. Es wird viel gelacht. Die Gemeinschaft macht die Armut erträglicher. Nach getaner Arbeit setzen sich auch Angelika Kaljic oder der ehrenamtliche Helfer Mo gern an die Tische dazu. Alle duzen sich. Und sämtliche Gäste sind froh, in der Großstadt zu leben. „Auf dem platten Land, zum Beispiel draußen in Brandenburg, gibt es keine Sozialeinrichtungen wie diese“, sagt Schmidt. „Da wäre ich aufgeschmissen.“

Andreas Kaiser