Schwierige Zukunft für Nigerias Almajiri-Kinder
Hohe Ansteckungsgefahr für bettelnde Kinder
Almajiri-Kinder werden sie genannte: Junge Koranschüler, die in Nigerias Städten betteln. In der Corona-Pandemie sind sie besonders gefährdet.
Sie stehen an Straßenkreuzungen, ziehen über Märkte und rezitieren auf Busbahnhöfen den Koran: Nigerias Almajiri-Kinder. Immer in den Händen halten sie kleine, dreckige Schüsseln und hoffen, dass Passanten etwas Geld oder Essbares hineinlegen. Fast alle sind Jungen, manche von ihnen erst sechs oder sieben Jahre alt, andere bereits Teenager. Oft werden sie wie lästige Fliegen verscheucht und gelten als Belästigung.
Ein Bericht des Kinderhilfswerks Unicef schätzte 2014, dass allein in Nigeria 9,5 Millionen von ihnen leben. Unter anderen Namen, etwa Talibe im Senegal, sind sie jedoch in vielen Ländern Westafrikas bekannt. Das System ist immer gleich: Eltern schicken ihre Kinder zu einem Imam, bei dem sie den Koran auswendig lernen sollen. Doch statt Religionsunterricht zu erhalten, landen die Kinder zum Betteln auf der Straße. Sichere Unterkünfte gibt es ebenso wenig wie Sanitäranlagen. Stattdessen stehen sie unter großem Druck, Geld für den Imam zu erbetteln.
"Das ist keine Bildung für das 21. Jahrhundert", sagt Nasir El-Rufai, Gouverneur des Bundesstaates Kaduna im Norden Nigerias, "damit können sie höchstens Marabuts [Islamgelehrte] werden oder potenzielle Rekruten für Boko Haram". Gemeinsam mit anderen Gouverneuren aus dem Norden hat er das angestoßen, wofür nichtstaatliche Organisationen und Menschenrechtler schon seit Jahren kämpfen: das Ende des Almajiri-Systems. Aktuell wie nie zuvor ist die Diskussion durch den Ausbruch von Covid-19 geworden.
Vor dem Virus ist in Nigeria wohl kaum jemand so schlecht geschützt wie die Koran-Kinder. "Da sie kein zu Hause haben, kein Essen haben, betteln und die Häuser fremder Menschen betreten müssen, kann sich das Virus sehr schnell ausbreiten", betonte auch Abujas Erzbischof Ignatius Kaigama in einem Interview der Zeitung "The Sun" die große Ansteckungsgefahr. Manche Gouverneure entschieden deshalb, die Kinder zurück in ihre Heimatbundesstaaten zu schicken, um die Ausbreitung von Corona einzudämmen. Das löste zahlreiche politische Debatten aus.
Jahrhundertelange Tradition
Dabei hat die Schulform eine Jahrhunderte lange Tradition, sagt Sheik Nuruddeen Lemu. Er ist Forschungs- und Ausbildungsleiter am Da'wah Institute in Minna im Bundesstaat Niger. Dass Menschen für Bildung migrieren, etwa von Dörfern in Städte gehen, sei weder neu noch seltsam. Das Almajiri-System sei lediglich die Haussa-Variante davon. Die Zugehörigkeit zur Gruppe der Haussa - die größte ethnische Gruppe im Norden Nigerias - sei der gemeinsame Nenner und nicht, wie oft behauptet, die Religion. Muslime gebe es auch in anderen ethnischen Gruppen. Doch das Almajiri-System habe sich in anderen Teilen des Landes nicht in dieser Form durchgesetzt, sagt Lemu.
Was seiner Meinung nach außerdem wenig bekannt ist: Zu der traditionellen Ausbildung gehörte Unterricht in Rechnungswesen, Steuer- und Eherecht. Mit der Kolonialzeit, der Einführung von Englisch und der Schaffung neuer Verwaltungsstrukturen wurden diese Kenntnisse aber zunehmend weniger gefragt. "Dabei hat sich das System angepasst und weiter entwickelt. Es gibt Islamiyya-Schulen, die das nationale sowie das Curriculum des Koran unterrichten", so Lemu. Was aber fehle, sei die Unterstützung der Regierung für einen solchen Wandel.
Allerdings hat es in den vergangenen Jahren immer wieder Initiativen gegeben, etwa von der Weltbank. Damit sollten die Koranschulen in das offizielle System integriert werden. Ähnliche Projekte gibt es längst in anderen westafrikanischen und vor allem frankophonen Ländern, in denen sich die "Ecoles franco-arabes" - Koranschulen mit Französisch- und Mathematikunterricht - etabliert haben und als Erfolgsmodelle gelten.
kna