Arbeitsmigranten in der Corona-Pandemie

"Ich wünsche mir mehr Mut"

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Arbeitsmigranten aus Ost- und Südosteuropa werden angemietet, in Deutschland verschlissen und aussortiert. Der Corona-Pandemie sind sie schutzlos ausgeliefert. Spätestens jetzt ist es an der Zeit, ihre Wohn- und Arbeitssituation zu verbessern, fordert der Priester und Menschenrechtler Peter Kossen. Er engagiert sich seit Jahren für ausgebeutete Arbeiter.


Pfarrer Peter Kossen beim Diözesan-Kolpingtag 2017 auf dem Schlossplatz in Münster. Seit vielen Jahren setzt sich der Geistliche für Arbeitsmigranten vor allem aus Osteuropa ein. Foto: Michael Bönte/Bistumszeitung Kirche+Leben 

Vor wenigen Wochen wurden Erntehelfer aus Ost- und Südosteuropa unter strengen Auflagen eingeflogen. Spargelernte gerettet, könnte man sagen. Wie denken Sie darüber?

Schon vor der Corona-Krise war allen klar, dass diese Menschen gebraucht werden. Nur: Es wurde kleingeredet und als Win-win-Situation verkauft. Was definitiv nicht stimmt. Der fehlende Nachschub an frischen Arbeitskräften macht jetzt das Ausmaß an möglichen Schäden deutlich. Nicht nur in der Landwirtschaft. Auch die Fleischindus-
trie, Paketdienste, Ausstallkolonnen, das Reinigungsgewerbe und Privathaushalte können nicht mehr mit billigen Arbeiterinnen und Arbeitern „beliefert“ werden. Aber der Markt verlangt nach billigem Fleisch, Gratispaketen und günstiger 24-Stunden-Pflege. Im Zweifel sollen die, die da sind, mehr arbeiten. Es kann nicht sein, dass Reisebeschränkungen für Erntehelfer nur gelockert werden, um die Preise für die Verbraucher niedrig zu halten. Wir haben in Deutschland ein großes Problem damit, mehr Geld für gute Nahrungsmittel auszugeben. Ausgetragen wird das auf dem Rücken der Bauern und vor allem der ost- und südosteuropäischen Arbeitsmigranten.  

Zudem wird ihre körperlich schwere Arbeit selten wertgeschätzt. 

Sie hätten es verdient, dass man sie wertschätzt, denn ihre Schwerstarbeit vor allem in der Fleischindustrie will hier ja sonst keiner tun. Aber das Gegenteil ist der Fall: Wie Maschinen werden Frauen und Männer angemietet, verschlissen und aussortiert, ausgebeutet, betrogen und gedemütigt – Wegwerfmenschen statt Mitbürger, austauschbar und namenlos. Man hebelt Gesetze aus und verkauft ihnen das auch noch als Chance, in Deutschland Geld zu verdienen. 

Ihre Kritik ist nicht neu. Hat sich im Laufe der Jahre wirklich nichts verändert?

Es gibt einige Unternehmen, die ohne Werkvertragsarbeiter auskommen, die ihre Arbeiter fest anstellen und ihnen Wohnungen bauen – aber zu wenige. Es wurden auch gute Gesetze verabschiedet, zum Beispiel die seit 2017 geltende Nachunternehmerhaftung in der Fleischindustrie, die Betriebe unter anderem verpflichtet, darauf zu achten, dass ihre Nachunternehmer ihren sozialversicherungsrechtlichen Zahlungspflichten für die Werkvertragsnehmer nachkommen. Aber solche Gesetze werden immer noch umgangen. Deshalb mein ernüchternder Befund: Es hat sich nicht viel verändert. Das System, weitestgehend aufgebaut auf der Ausbeutung von Arbeitsmigranten, läuft weiter.

Inwieweit trifft die aktuelle Corona-Krise die Arbeitsmigranten?

Sie sind der Pandemie schutzlos ausgeliefert, auch weil sie von unmenschlicher Arbeit ausgelaugt und häufig gesundheitsschädlich untergebracht sind. Wir konnten die Gewerkschaften, die Katholische Arbeitnehmer-Bewegung und mehrere Diözesanverbände für einen gemeinsamen Aufruf gewinnen. Denn spätestens jetzt ist es an der Zeit, die Wohn- und Arbeitssituation zu verbessern, um die Migranten sowohl vor einem weiteren Unterlaufen der Mindeststandarts zu schützen, als auch vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus.  

Um welche Maßnahmen geht es?

Eine Person, ein Zimmer: Das wäre ein Anfang. Man könnte zum Beispiel über freie Hotelkapazitäten nachdenken. Das Aufeinanderhocken in überbelegten Sammelunterkünften und Wohnungen, die auch noch überteuert vermietet werden, ist gefährlich. Mein Bruder, der als Arzt Arbeitsmigranten behandelt, sagt, vielen wäre schon geholfen, wenn sie mal zwei Wochen lang in Ruhe schlafen könnten. Körperlich ausgelaugt, gehören auch jüngere Leute zur Risikogruppe. Außerdem müsste überprüft werden, wie es in den Betrieben, in der Schlachtung, aussieht. Werden Schutzbestimmungen eingehalten? Gibt es Mindestabstände, Schutzbekleidung, Hygienemaßnahmen? Ich befürchte eher: Wer krank wird und umkippt, wird einfach ersetzt. 

Moderne Sklaverei ...

Ja, moderne Sklaverei ist die Realität. Natürlich kommen Arbeitsmigranten freiwillig nach Deutschland, aber sie befinden sich oft in Abhängigkeitsverhältnissen. Wer in einem Unternehmen arbeitet, das ihn auch unterbringt, ist mehrfach erpressbar. Schwere Menschenrechtsverletzungen gibt es in unserem Land tagtäglich hunderttausendfach an dieser Gruppe von Mitbürgern. 


Für die Spargelernte werden Helfer gebraucht – viele kommen
aus Osteuropa. Foto: istock/U. J. Alexander

Was sagt das aus über eine Gesellschaft, die so mit Menschen umgeht?

Dass wir eine Art Schere im Kopf haben. Die Arbeitnehmerrechte, die wir für uns geltend machen und am 1. Mai feiern, gelten offensichtlich nicht für alle. Man versucht das sogar zu rechtfertigen, indem man sagt: „1000 Euro sind doch viel Geld für einen Rumänen oder Bulgaren! So viel würde er in seiner Heimat nicht verdienen!“ Manchmal frage ich Leute, ob sie ihren Kindern zumuten würden, so zu leben und zu arbeiten. Erst wenn sich Arbeitsmigranten verweigern würden, würden die Unternehmen und würde die Gesellschaft spüren, was sie an diesen Menschen hat und wie ungerecht ihre Ausbeutung und Abzocke ist.

Warum ist ihr Schicksal weniger präsent als das der Flüchtlinge?

Wir sprechen von etwa dreieinhalb bis vier Millionen Arbeitsmigranten aus Ost- und Südosteuropa, die in Deutschland leben, oft am Rand der Gesellschaft. Sie fallen nicht auf, werden abgedrängt in Parallelwelten, auch diskriminiert und herabgewürdigt. Ihre Alltagssituation ist wenig bekannt, weil sie im Gegensatz zu Flüchtlingen kaum integriert sind. 

Wäre es dann nicht an der Zeit, das freiwillige Engagement für Flüchtlinge auf Arbeitsmigranten auszuweiten?

Das würde ich sehr begrüßen und habe es auch schon angeregt. 

Und wie könnte diese Hilfe aussehen?

Wer sich bereits in der Flüchtlingshilfe engagiert, bringt die Fachkenntnisse darüber, was zu einer gelingenden Integration nötig ist, schon mit. Er kennt sich aus mit Wohnungen, Sprachkursen, Behördenkontakten, informellen Treffpunkten, Ausbildungsplätzen, dem Zugang zu Sportvereinen und anderen Freizeitaktionen. Die Arbeitsmigranten aus Ost- und Südosteuropa brauchen all das dringend und finden bisher fast nichts davon vor. Mir erzählte letztens eine junge Frau aus Rumänien, dass viele ihrer Landsleute wie gelähmt sind. Ihnen fehlt die Kraft, sich aufzulehnen, also ergeben sie sich in ihr Schicksal. 

Wie setzt sich die Katholische Arbeitnehmer-Bewegung ein?

Manchmal wünsche ich mir, dass sie den Mut hat, noch genauer hinzuschauen und Besserung zu fordern, etwa, was die Wohnverhältnisse für Arbeitsmigranten betrifft, im Bereich des Bistums Osnabrück zum Beispiel in der alten Molkerei in Badbergen, in der alten Kaserne in Quakenbrück oder rund um die Großschlachterei in Sögel im Emsland. Es ist nicht leicht, das Vertrauen der Arbeitsmigranten zu gewinnen, weil sie skeptisch sind gegenüber Behörden, Gewerkschaften oder Polizei. Aber KAB-Gruppen vor Ort könnten signalisieren: Wenn ihr euch wehrt, seid ihr nicht allein! Viele wissen gar nicht, dass es eine Prozesskostenhilfe gibt oder Beratungshilfe vor Gericht und klagen deshalb ihre Rechte nicht ein.

Damit fordern Sie die Kirche auf, auch mal unbequem zu sein. Warum?

Um des Menschen willen. Das Maß aller Dinge ist der Mensch, und er muss auch im Mittelpunkt des Wirtschaftens stehen. Das ist leider nicht selbstverständlich. Deshalb müssen Menschenwürde und Gerechtigkeit immer wieder eingefordert werden. Die Kirche sollte der Sand im Getriebe sein. Sie sollte sich nicht nur um die kümmern, die unter die Räder kommen, sondern das Rad auch mal anhalten. Dabei ist auch mit Widerspruch zu rechnen. Aber man kann nur viel erreichen, wenn man den Konflikt nicht scheut.
 
Interview: Anja Sabel