Alte Menschen erzählen

Im Rucksack des Lebens steckt viel Optimismus

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Frau sitzt auf dem Sofa
Nachweis

Foto: Katrin Kolkmeyer

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Christa Hauck in ihrer Wohnung in Osnabrück. Dort ist sie vor fast 50 Jahren mit ihrer Familie eingezogen.

Was hat ältere Menschen geprägt? Wie denken sie über die Kirche und die Welt mit ihren Krisen heute? Und worauf kommt es im Leben an? Wir haben mit drei über 80-Jährigen aus dem Bistum Osnabrück gesprochen.
 
Christa Hauck aus Osnabrück

In Dinge, die sich nicht ändern lassen, kann sich Christa Hauck klaglos fügen. Aber sie weiß sich auch durchzusetzen. Wie damals, als der jungen Kindergärtnerin ein Arbeitsplatz zugewiesen wurde. Auf die Frage, ob sie in der Nähe ihrer Eltern bleiben oder lieber eine weiter entfernte Stelle antreten wolle, konnte sie gar nicht schnell genug antworten: „Ich will weit weg!“ Sie lacht. Als jüngstes von fünf Geschwistern habe sie die Chance ergriffen, ihre Freiheit zu genießen. Aber dann, sagt sie, „haben die mich so richtig weit weggeschickt, in ein Dorf nach Mecklenburg“. Dort war sie die Fremde, neugierig beäugt – und von der Dorfjugend drangsaliert. Sie wehrte sich und lief schnurstracks zur Polizei. „Danach war Ruhe.“

Während Christa Hauck erzählt, geht ein Sommergewitter über Osnabrück nieder. Regen prasselt an die Fensterscheiben. Die 88-Jährige lässt ihren Blick schweifen und sagt: „Hier ziehe ich nicht mehr aus.“ Auch wenn die Wohnung, in der sie seit fast 50 Jahren lebt, für sie allein jetzt zu groß ist. „Aber die Miete ist günstig, und ich verstehe mich gut mit den Nachbarn.“

Aufgewachsen ist Christa Hauck in der DDR vor dem Mauerbau. Ihre Eltern stammten aus Schlesien. „Wir waren die einzige katholische Familie im Dorf“, sagt sie und schwärmt von ihrer „wunderschönen Kindheit“. Während des Krieges blieb es ruhig im Dorf, kein Schuss fiel, keine Bombe. „Allerdings haben wir Magdeburg brennen sehen.“ Als angehende Kindergärtnerin musste sie vor der pädagogischen Ausbildung ein Haushaltsjahr absolvieren – im Kloster Marienfelde bei Berlin. „Ich habe acht Tage lang nur geweint“, sagt Christa Hauck. Hinzu kam: „Es war unheimlich streng bei den Ordensschwestern.“ Enge Freundschaften unter den Mädchen waren zum Beispiel nicht gern gesehen. Was sie nicht davon abhielt, dennoch eine Freundschaft fürs Leben zu schließen. Sie haderte zwar mit den strengen Klosterregeln, denkt aber auch gern an die Zeit zurück. „Es gab einen Garten mit einer großen Marienstatue, dort haben wir zum Abendgebet gesungen und ich spielte Akkordeon.“

Eines Tages – sie leitete inzwischen einen Kindergarten in Mecklenburg – wollte sie Urlaub machen „im goldenen Westen“. Eine Tante wohnte in Ostercappeln bei Osnabrück, und sie hatte das Glück, eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen. Die Ankunft in Osnabrück hat sie bis heute nicht vergessen: „Meine Güte! Vom kleinen ostdeutschen Dorf in diese Stadt. Ich dachte, ich komme ins Paradies.“ Besonders die Apfelsinen hatten es ihr angetan. „Wir kriegten ja nur einmal im Jahr zu Weihnachten welche. Die haben wir oft so lange auf dem Teller liegen lassen, bis sie faulten.“

Wir hatten ja damals nur die Kirche und waren froh, dass wir mal rauskamen.

Christa Hauck blieb im Westteil Deutschlands. Das war nicht geplant. „Aber ich habe gedacht: Jetzt oder nie!“ In Bad Rothenfelde südlich von Osnabrück konnte sie in einem Kinderheim für eine erkrankte Erzieherin einspringen, fand bald darauf eine feste Anstellung. Beim Kolping-Karneval lernte sie ihren Mann kennen und gründete eine Familie. Später arbeitete sie mit einer halben Stelle als Pfarrsekretärin. Obwohl sie „kein Büromensch“ ist. Aber der damalige Dechant überredete sie: „Frau Hauck, das ist doch nicht nur Schreibkram, im Pfarrbüro muss man auch mit Menschen umgehen können.“ Damit, sagt sie, „hatte er mich“.

Die Kirche war immer ein Teil ihres Lebens. Mit ihren Eltern ging sie bei Wind und Wetter zum Gottesdienst. „Das habe ich beibehalten, auch später in Mecklenburg bin ich fünf Kilometer zu Fuß zur nächsten Kirche gelaufen. Ich hoffe, dass ich mir da oben ein paar Pluspunkte verdient habe“, sagt sie und lacht. Heute ist sie auch ökumenisch unterwegs. Dass kirchliche Strukturen wie Kolpinggruppen und Frauenkreise wegbrechen, bedauert Christa Hauck. Aber sie sieht es ganz pragmatisch: „Die Jugend heute macht es eben anders, sie muss sich zwischen so vielen Angeboten entscheiden. Wir hatten ja damals nur die Kirche und waren froh, dass wir mal rauskamen.“ 

Untergehen werde die Kirche nicht, trotz aller Stürme, da ist Christa Hauck zuversichtlich und vergleicht die Kirche mit der Hallig Hooge im nordfriesischen Wattenmeer, die mehrmals im Jahr in der Nordsee versinkt. Die Osnabrückerin macht dort seit dem Tod ihres Mannes Urlaub, genießt die Ruhe, geht spazieren, liest, sitzt im Strandkorb oder geht zum Singen auf die Kirchenwarft. „Dass es mir dort so gut gefällt, kommt vielleicht daher, dass ich auf dem Dorf aufgewachsen bin. Wenn wir aus dem Fenster guckten, konnten wir die blühenden Felder sehen. Die Hallig erinnert mich daran.“

 

Hermann Nölker aus Twistringen

alter Mann im Garten
Hermann Nölker lebt mit seiner Frau Johanna in Twistringen südlich von Bremen. Foto: Anja Sabel

Ein Kissen mit Schriftzug auf dem Terrassenstuhl, eine bedruckte Kerze im Wohnzimmer: Es ist offensichtlich, dass den Nölkers in Twistringen gerade die Goldene Hochzeit ins Haus stand. Begeistert erzählt Hermann Nölker vom Gottesdienst in der St.-Anna-Kirche und vom anschließenden Familienfest. Einsamkeit im Alter, „die kenne ich zum Glück nicht“, sagt der 80-Jährige. Und das hat viel damit zu tun, dass er Freundschaften pflegt und fest eingebunden ist in kirchliche Ehrenämter. 

Mittlerweile sei er „der Älteste bei den Altkolpingern“, die sich unter anderem um Wegekreuze kümmern. Außerdem „bin ich einer der letzten Kirchenfeger“. Das heißt: Einmal wöchentlich sorgt eine Seniorengruppe für Ordnung rund um die Kirche. Nach getaner Arbeit sitzen die Männer noch zusammen und trinken ein Bier. Von den Jüngeren hat niemand mehr Interesse. „Solche Strukturen, das Christliche überhaupt, geht verloren“, bedauert Nölker. Das tut weh, „denn mir hat der Glaube immer Halt gegeben“. Als er nach einem Schlaganfall im vergangenen Jahr auf der Intensivstation lag ebenso wie nach dem Tod seines Vaters. Da war Hermann Nölker erst 19 Jahre alt. Im Gespräch fällt immer wieder ein Wort: Zufriedenheit. „Ich danke Gott, dass es uns heute so gut geht.“

Worauf kommt es an im Leben? Hermann Nölker schmunzelt. Die richtige Partnerin oder den richtigen Partner zu finden, das steht für ihn an erster Stelle. Zweitens: „dass es in der Familie stimmt“. Und drittens: einem Beruf nachzugehen, der den eigenen Talenten entspreche. Wichtig sei aber auch die Bereitschaft, etwas leisten zu wollen und entscheidungsfreudig zu sein. „So bin ich geprägt worden“, sagt der gelernte Speditionskaufmann und spätere Geschäftsführer im In- und Export von Fleischwaren. Wenn es Ärger gab, ist er selbst zu den Kunden gefahren und hat das Problem aus der Welt geschafft. „Heute heißt es oft: Darum soll sich unser Anwalt darum kümmern. Miteinander reden, sich an einen Tisch setzen, das schätze ich.“ Über welches Kompliment seiner ehemaligen Mitarbeiter würde er sich am meisten freuen? „Der Nölker, der war noch menschlich.“

Viele Nachkriegsgeborene wollten es unbedingt schaffen, „aus dem Kohlenkasten herauszukommen“. Dabei profitierten sie auch vom Wirtschaftsaufschwung. Hermann Nölker, Jahrgang 1944, ist gebürtiger Twistringer. Schon sein Vater wurde in der katholischen Enklave südlich von Bremen geboren, als jüngstes von zehn Kindern auf einem Bauernhof. Als „Kriegsprodukt und Einzelkind“ war seine Kindheit schwer. Da der älteste Onkel den Hof in den Ruin getrieben habe, „musste auch meine Familie nach dem Krieg bei null anfangen“. 

Zu den beiden erwachsenen Söhnen haben die Nölkers einen guten Kontakt. Mit der Kirche „haben sie aber nicht mehr viel am Hut“. Doch damit hat Hermann Nölker längst seinen Frieden gemacht. Ebenso mit der Tatsache, dass es bisher keine Enkelkinder gibt. „Das ist zwar nicht schön, aber ich sage immer: Der liebe Gott gibt eben nicht alles.“

Ich sage immer: Der liebe Gott gibt eben nicht alles.

Nach seinem überstandenen Schlaganfall braucht Nölker manchmal Zeit für sich allein. Er geht dann im Wald spazieren und denkt oft an die Worte eines Onkels, „der nicht in die Kirche ging, aber ein gläubiger Mensch war“. Der habe immer gesagt: „Wir brauchen keine neuen Gesetze, wie müssen uns nur an die Zehn Gebote halten.“ Das stimmt Hermann Nölker nachdenklich. Die politische Unzufriedenheit in Teilen der Bevölkerung, der Ruck nach rechts, das macht ihm Sorgen, und auch, dass Strukturen wegbrechen, familiär wie kirchlich. Er erzählt von einer Gemeindefahrt nach Krakau. Zum Abschluss wurde ein kleiner Altar im Hotel aufgebaut, und der Pfarrer predigte nicht, sondern ermunterte die Gruppe, von ihren Reiseerlebnissen zu erzählen. „Das war schön – wo hat man das noch? Wer vermittelt in Zukunft noch Werte, wie es das Christentum tut?“ 

Natürlich wünscht sich Nölker nicht die Kirche seiner Kindheit zurück. „Wir Katholiken haben uns eingeigelt. Ich weiß noch, wenn mein Vater zum Schützenfest nach Bassum gegangen ist, gab es grundsätzlich Schlägereien mit den Protestanten. Diese Zeiten sind Gott sein Dank vorbei.“

Das Alter sieht er positiv und freut sich auf „vielleicht noch zehn Jahre Spaß am Leben“. Kein oberflächlicher Spaß. Oft genug hat er miterlebt, dass Menschen in seinem Umfeld rücksichtslos alles mitgenommen haben, was das Leben zu bieten hat. „Das kann man natürlich machen, aber irgendwann kommt die Unzufriedenheit, vor allem im Alter, wenn man krank wird.“ Viel wichtiger seien eine gute Partnerschaft und der Glaube als gemeinsame Basis. „Es dreht sich nicht alles ums Geld.“ Einmal hörte er den Satz: „Meine Seele ist mein Portemonnaie.“ Das hat ihn so geärgert, dass er demjenigen gehörig die Meinung gegeigt hat.

 

Irmgard Keuth aus Bremen

alte Frau auf dem Balkon
Irmgard Keuth ist vor knapp zwei Jahren in eine Service-Wohnung der Bremer Caritas gezogen. Foto: Anja Sabel

Am liebsten sitzt Irmgard Keuth im Sessel am Fenster. „Die Beine wollen nicht mehr so wie früher“, sagt sie, aber mit ihrem Rollator komme sie noch überall hin. In Bus und Straßenbahn springen meistens „die jungen ausländischen Männer“ auf, um ihr zu helfen. „Die schätzen das Alter noch.“ Es ist ihr wichtig, das zu erwähnen. „Oft liest man ja in der Zeitung Negatives über Migranten, ich wollte schon immer mal hinschreiben und von meinen Erfahrungen erzählen.“

In wenigen Monaten wird Irmgard Keuth 90. In ihrer Familie, sagt sie, sei noch keiner so alt geworden. Vor knapp zwei Jahren hat sie ihr Haus aufgegeben und ist in eine Service-Wohnung der Bremer Caritas gezogen. Ein paar eigene Möbel konnte sie mitnehmen, die Küche ist neu. Irmgard Keuth kocht und backt noch gern selbst. Außerdem strickt sie Socken „für den ganzen Flur“. Einmal hat sie zwei Mieterinnen gebeten, ihren Streit beizulegen und sich auszusprechen. „Auch ältere Leute können manchmal zickig sein“, sagt sie und lacht. "Ich will mit allen gut auskommen."

Der Krieg überschattete ihre frühe Kindheit. 1935 in Bremen geboren, floh sie mit Mutter und zwei Geschwistern erst zu Verwandten nach Ostpreußen, danach ins Rheinland und von dort mit dem letzten Flüchtlingstransport nach Thüringen. In den letzten Kriegsjahren erlebte sie die Bombenangriffe auf ihre Heimatstadt Bremen mit. „Meistens hockten wir im Bunker.“ Ihr Vater, gelernter Mauerer, wurde zum Bunkerbau abgestellt. „Wir hatten natürlich ein Urvertrauen in ihn und sagten uns: Wenn Papa den Bunker gebaut hat, kann uns nichts passieren.“ Dennoch vergisst sie die schrecklichen Bilder nicht: erstickte Kinder, Tote auf den Straßen, verbrannt von Phosphorbomben. Und sie hat die Lautsprecherstimme bis heute im Ohr: „Kampfverbände nähern sich unserer Stadt. Bitte alle Bunkertüren und die Klappen schließen!“

Die Krisen weltweit, vor allem der Krieg in der Ukraine, beunruhigen die 89-Jährige. „Das erinnert mich an damals“, sagt sie und schüttelt den Kopf: „Wie kann Putin ein Krankenhaus bombardieren? Ich finde, dass die Kriege grausamer geworden sind.“ Es könne aber auch daran liegen, überlegt sie, dass uns grausame Bilder aus aller Welt heute rund um die Uhr erreichen.  

Irmgard Keuth verfolgt die Nachrichten und spart auch nicht mit Kritik an der Kirche. Die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs, der Synodale Weg – das geht ihr alles zu langsam. „Ich fürchte, dass ich richtige Reformen gar nicht mehr erlebe“, sagt sie und bekennt: „Lieber schaue ich mir sonntags einen evangelischen Gottesdienst im Fernsehen an. Die sind mehr am Puls der Zeit.“

Wir hatten auch schlechte Zeiten, aber wir waren zufrieden.

Von der katholischen Kirche wendet sie sich dennoch nicht ab. Aus gutem Grund: „Sie hat mich sehr geprägt und uns Jugendliche nach dem Krieg aufgefangen.“ Die St.-Marien-Kirche im Bremer Westen war damals zerstört, die Schulen waren geschlossen. Irmgard Keuth klopfte mit anderen Freiwilligen Steine. Aus den Steinen wurde eine Halle für den Sonntagsgottesdienst gebaut. Irmgard Keuth gründete in den 1950er Jahren eine Jugendgruppe, die so fest zusammenhielt, dass andere frotzelten: „Die Marienkinder, an die ist gar nicht ranzukommen.“ Zu einigen Freundinnen hat die Seniorin noch heute Kontakt. 

Im Kirchenchor lernte sie ihren Mann kennen, drei Kinder wurden geboren. Die gelernte Schifffahrts- und Speditionskauffrau arbeitete in der Frachtabteilung des Unternehmens Hapag-Lloyd – anfangs als eine der wenigen Frauen. Wenn sie auf dem Hafengelände unterwegs war, um nach abhandengekommenen Kisten zu suchen, „war das wie ein Spießrutenlauf, mit Pfiffen und Sprüchen wie: „Mädel, was machst du denn hier?“

Im Ruhestand kümmerte sich Irmgard Keuth lange Zeit ehrenamtlich um alte Menschen mit Demenz und Parkinson. Das eigene Altern nimmt sie gelassen. „Wenn etwas nicht mehr so klappt wie früher, sagen meine Kinder manchmal: Mama, du bist eben alt! Dann antworte ich: Ja, danke, das weiß ich.“ Eine optimistische Lebenseinstellung mache den Rucksack des Lebens, den man mit sich herumschleppe, leichter, sagt sie. „Wir hatten auch schlechte Zeiten, aber wir waren zufrieden und haben nichts entbehrt.“ 

Auch mit fast 90 will sie nicht nur in ihrer kleinen Service-Wohnung sitzen. Sie nutzt das vielfältige Freizeitangebot und ermutigt auch andere Mieterinnen und Mieter, mal wieder vor die Tür zu gehen. Eine Gehhilfe muss da kein Hindernis sein. Praktische Tipps für Bus und Straßenbahn gibt es von Irmgard Keuth gleich dazu: „Mit einem Rollator muss man rückwärts aussteigen. Sonst haut er einem ab, und so schnell kommt man nicht hinterher.“
 

Anja Sabel