Entwicklung der Trauerkultur
Jeder trauert anders
Heute gehen nicht mehr alle Menschen so selbstverständlich wie früher auf den Friedhof, um ihrer verstorbenen Angehörigen zu gedenken. Viele entwickeln neue, ganz persönliche Rituale. Diese Veränderung der Trauerkultur kann eine Chance sein.
Von Kerstin Ostendorf
Marianne Bevier geht gern auf den Friedhof. Dort pflegt sie das Grab ihrer Mutter, zupft Blätter oder gießt die Blumen – und fühlt sich ihr so nahe. „Ich bin aber auch die Tochter eines Gärtners und war als Kind häufig auf dem Friedhof“, sagt sie.
Bevier ist katholische Theologin und ehemalige Vorsitzende des Bundesverbandes Trauerbegleitung. Sie sagt, dass sich unsere Trauer- und Erinnerungskultur in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend verändert hat. So selbstverständlich wie Bevier besuchen nicht mehr alle Menschen einen Friedhof. Zwar gehen viele Familien, gerade zu den Gedenktagen im November, an die Gräber ihrer Angehörigen. Doch für andere verlieren die Friedhöfe an Bedeutung.
Zum einen liege das an der Vielfalt der Bestattungsmöglichkeiten, sagt Bevier: „Ich kann in einem Friedwald, einem Kolumbarium, anonym oder auf See bestattet werden.“ Zum anderen erinnern wir uns heute häufiger als früher auch an jenen Orten an einen Verstorbenen, an denen wir eng mit ihm verbunden waren. Etwa bei der Vorbereitung eines Festes, wenn man gern gemeinsam gefeiert habe – oder beim Besuch einer Gedenkseite im Internet, wenn man vor allem über soziale Medien kommuniziert habe. Bevier sieht in diesem Wandel keinen Verlust: „Wir verlieren nicht unsere Trauerkultur. Sie verändert sich nur, weil sich unsere Lebensformen und die Art, wie wir Beziehungen gestalten, verändern.“
Trauerorte bleiben für Hinterbliebene wichtig. „Wenn ein lieber Mensch stirbt, werden wir von der Trauer überwältigt. Ununterbrochen sind wir in Gedanken bei dem Verstorbenen“, sagt Bevier. Ein Trauerort kann helfen, mit der Trauer umzugehen. „Ich gehe dorthin, zünde zum Beispiel eine Kerze an, ich erinnere mich an den Toten. Dann kann ich aber auch wieder weggehen und mich dem Leben widmen“, sagt sie. Solche Orte könnten in der Natur sein oder in einer Ecke der Wohnung. Auch ein Foto im Geldbeutel kann helfen. Als öffentlicher Trauerort bleibe auch der Friedhof bedeutsam, sagt Bevier: „Er schafft ein Gefühl von Gemeinschaft – für die Lebenden und für die Verstorbenen.“
Ein Enkel, der mit Menschen über die Verstorbenen spricht
Sie erinnert sich an eine Familie, in der während der Corona-Zeit der Großvater starb. Die Angehörigen konnten sich nicht von ihm verabschieden. Der 13-jährige Enkel sprach kaum über seine Trauer, aber nach der Beerdigung seines Opas ging er oft zum Friedhof in seinem Heimatort. „Er half dort den Leuten, Blumen zu gießen, und sprach mit ihnen über die Verstorbenen“, sagt Bevier. „Er brauchte das, um seine Trauer zu verarbeiten. Dafür ist der Friedhof ein guter Ort.“
Für alle, die sich auf dem Friedhof unwohl fühlen und nicht wissen, wie sie sich verhalten sollen, hat sie einen Tipp: „Bereiten Sie sich vor.“ Mit wem gehe ich zum Friedhof? Was ist der Anlass? Sind Kinder dabei? Möchte ich schweigend zum Grab gehen – oder über den Verstorbenen sprechen? „Am Grab kann ich eine Kerze entzünden oder Blumen, ein Erinnerungsstück oder etwas Gebasteltes für den Verstorbenen mitbringen. Ich kann ein Lied singen oder ein Segensgebet sprechen“, sagt Bevier. „So kann ich für mich ein eigenes Ritual entwickeln.“