Bibelerzählen lernen

„Jesus war ein genialer Erzähler"

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Bibelerzählen – das kann man lernen. Warum es besser ist, biblische Geschichten zu erzählen, welche Gelegenheiten sich dafür anbieten und worauf man achten sollte – das weiß Dirk Schliephake, evangelischer Pastor und Dozent für Bibelerzählen im Michaeliskloster in Hildesheim.


Schriftfenster, sogenannte Scripture Windows, sind ein Ansatzpunkt für das Erzählen biblischer Geschichten, erklärt Dirk Schliephake. Foto: Christoph Brüwer

Warum ist es besser, eine Bibelgeschichte zu erzählen, statt sie vorzulesen?

Das hängt mit der Entstehung der Bibel zusammen. Vom Alten Testament weiß man, dass viele Texte erst im Babylonischen Exil aufgeschrieben worden sind, die seit Jahrhunderten einfach mündlich erzählt wurden. Auch Jesus war ein genialer Erzähler und hat auf Fragen, die ihm Schriftgelehrte gestellt haben, mit einer Erzählung, einem Gleichnis geantwortet.

Dann wurden diese Erzählungen verschriftlicht und dabei sehr „eingedampft“ auf das Wesentliche. Durch Bibelerzählen entfalten wir diese komprimierten Texte wieder zu einer längeren Erzählung. Und das Spannende ist – so neue Erkenntnisse der Neurowissenschaften –, dass unser Gehirn besonders live erzählte Geschichten sammelt.

 

Geht aber nicht etwas verloren, wenn ich die Geschichte in meinen eigenen Worten erzähle und nicht so, wie sie in jahrhundertelanger Tradition übersetzt wurde?

Jede Übersetzung ist an sich schon eine Interpretation. Das ist ein Prozess, der nie abgeschlossen ist. Bibelerzählen ist wie eine Predigt, eine eigene, authentische Interpretation eines Bibeltextes. Deswegen ist es in der Ausbildung so wichtig, sich zunächst ausgiebig mit dem Bibeltext zu beschäftigen, nachzuspüren, wo mich dieser alte Text heute berührt und anspricht. Und wenn die Geschichten mit vielfältigen Methoden gut vorbereitet sind, ist Erzählen immer auch wie ein öffentliches Glaubensbekenntnis.

 

Bei welchen Gelegenheiten können biblische Geschichten erzählt werden?

Überall dort, wo Menschen im Bereich von Kirche zusammenkommen, also besonders im Sonntagsgottesdienst, wo eine Bibelgeschichte anstelle der Predigt erzählt werden kann. Oder das Evangelium wird zunächst erzählt und dann bei der Lesung vertieft gehört. Das Evangelium kommt noch viel intensiver zum Klingen. In Gruppen und Kreisen ist Bibelerzählen eine altersunabhängige und milieuübergreifende Form der Kommunikation des Evangeliums. Es gibt eigentlich keinen Ort, wo Bibelgeschichten nicht erzählt werden können.

 

Inwiefern muss ich meine Erzählweise dem Publikum anpassen?

Die Erzählungen, die wir vorbereiten, werden niemals aufgeschrieben, sonst besteht die Gefahr, einen Text auswendig gelernt nachzuerzählen. Die mündliche Sprache ist anders. Wir malen mit Worten Bilder. Ich erzähle, was ich höre, rieche, schmecke und die Bilder, die ich sehe, sehen die Hörer auch. So ist man im ständigen Kontakt mit den Zuhörern und kann direkt auf Resonanzen reagieren. Und das ist für mich das Überraschende: Die gleiche Geschichte, so wie ich sie erzähle, kann ich im Kindergarten, vor Jugendlichen, Erwachsenen oder vor Senioren genauso erzählen. Und jeder Mensch hört aus dieser Erzählung besonders das heraus, was die eigenen Erfahrungen zum Klingen bringt.

Menschen, die beispielsweise selbst einmal fast ertrunken sind, hören an der Stelle ganz besonders zu, wo Petrus fast ertrunken wäre. Da verwebt sich die Erzählung mit dem eigenen Leben. Wie und wann das geschieht, ist trotz aller handwerklichen Erzählkunst Sache des Heiligen Geistes. Wir erleben immer wieder neu, wie Menschen durch erzählte Bibelgeschichten befreit, aufgerichtet und getröstet werden.

 

Worauf sollte man achten, wenn man Bibelgeschichten erzählt?

Entscheidend ist der Anfang. In der Ausbildung lernen wir ganz intensiv, so zu beginnen, dass man in die Geschichte „gebeamt“ wird, wie bei „Raumschiff Enterprise“. Mit den ersten Sätzen ist man am See Gennesaret oder vor dem schönen Tempeltor. Wenn es gelingt, Menschen so in die Geschichte zu nehmen, dass die Geschichte miterlebt wird, als wäre man Teil der Geschichte, ist die Erzählung handwerklich gut gelungen. Deswegen gibt es keine große Hinführung, keine Themenangabe, das führt eher weg. Anfänge sollen neugierig machen und überraschen. Bibelgeschichten enden im Gegensatz zu vielen Märchen offen. Wie bei Jesus können sie bei den Zuhörern noch lange weiterwirken. Oft lebenslang.

Interview: Christoph Brüwer

Eine öffentliche Bibelerzählnacht findet am 21. November abends in der St.-Antonius-Kirche (Am Boberg 10, Georgsmarienhütte) in Holzhausen statt. Der genaue Zeitpunkt steht noch nicht fest. Dort können die Besucher verschiedene Stationen besuchen und Geschichten lauschen. Infos: Telefon 0 54 01/33 60. Mehr zum Thema auch im aktuellen Kirchenboten.