Kein Hahn kräht nach der Menschheit

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In der achten Klasse zersprang im Chemieunterricht direkt vor ihm ein Kolben. Zu lange ließ er den Bunsenbrenner an. Zurück blieb eine kleine Narbe über dem rechten Auge. Mit solchen chemischen Experimenten fing alles an – seine Leidenschaft zum Entdecken und seine spätere Passion.

Hans-Martin Gürtler hat in seiner Schule einen Raum  geschaffen, der zum Denken anregt über das Geosystem Erde.
Der Raum ist in vier Themenfelder aufgeteilt. Hier: Die Entstehung und Geschichte der Erde.  Foto: Joanna Figgen

Heute sagt Hans-Martin Gürtler: „Mein Chemielehrer hat mir das Forscher-Gen eingepflanzt“. Er studierte nach dem Abitur Sport und Englisch, nicht etwa Chemie. Doch die Erfahrungen des Chemieunterrichts machten ihn zu einem begeisterten Besucher der Mineralien-Messe Hamburg. Dass er irgendwann diese Messe beruflich besuchen wird, wusste Hans-Martin Gürtler damals noch nicht. 

Der 56-Jährige ist stellvertretender Schulleiter der Katholischen Schule Hammer Kirche in Hamburg und Begründer des Projekts GeoSystemErde (GSE). GSE ist ein fächerübergreifendes Bildungsprojekt der Schulen im Erzbistum Hamburg. Im Zentrum dieser Idee steht ein Raum im Untergeschoss der Schule Hammer Kirche. Eine detaillierte Beschreibung des Raums könnte bereits diesen ganzen Artikel füllen. Nur so viel: Unser Sonnensystem hängt mehrfach von der Decke. Auf der Fensterbank stehen der Big Ben und der Petersdom aus Legosteinen. Die Dinosaurier haben ihren Platz gefunden und eine echte Kralle der Urzeitmonsters erinnert an sie. Zahllose Kristalle, Fossilien und Steine sind zu entdecken – angereiht wie in einem Steckkasten. Mitten drin steht strahlend Hans-Martin Gürtler. Das Projekt hat viele Preise gewonnen, unter anderem den Deutschen Lehrerpreis 2012. Für den 56-Jährigen ist das der einzige Preis, der wirklich zählt. Die Preisgelder hat er gleich wieder in neue Anschaffungen investiert. „Ich brauchte nur noch die Bewerbungen zu schreiben.“ Aber auch eigenes Geld und vor allem Dingen viele, viele Stunden Arbeit sind hier hineingeflossen. 

Die Bücher müssen zum Leben erweckt werden

Der Startschuss für dieses Mammutprojekt fiel, wo auch sonst, auf der Mineralien-Messe. Vor mehr als zehn Jahren ging er das erste Mal mit Schülern dorthin – ein Schlüsselmoment: „Ein Schüler, der sich im Unterricht nicht konzentrieren konnte, hat eine halbe Stunde konzentriert daran gearbeitet, ein Fossil zu präparieren. Das ist schwer. Und jetzt sagen Sie mir warum?“ Die Antwort gibt sich Hans-Martin Gürtler selbst: „Das ist Motivation.“ Er organisierte daraufhin mehr solcher Mitmachaktionen. Die Klasse suchte im Archäologischen Museum Harburg systematisch Sand nach Münzen ab, sie wuschen Gold oder schliffen Opale. 

Dem Lehrer wurde bewusst, dass er einen Raum schaffen musste, in dem alles sichtbar wird. Ein Raum voller Möglichkeiten, der die Schüler zum Erforschen und Nachdenken anregt. „Früher konnten mir Schüler oft nicht folgen. Jetzt wo sie alles selbst sehen können, anfassen können, geht das. Man bekommt die Schüler nicht durch Bücher. Die Bücher müssen zum Leben erweckt werden.“ 

Ein Spruch beherrscht seitdem das Tun des 56-Jährigen: Lernen sichtbar machen. Für ihn zählt nicht die pure Leistung, nicht das Auswendiglernen. Er möchte das „systemische Denken“ der Schüler anregen. Sie sollen die Zusammenhänge zwischen den Dingen verstehen. Das Forscher-Gen, welches sein Lehrer ihm damals einpflanzte, versucht er weiterzugeben.

Und: Er trägt es noch immer in sich. Auch nach Jahren ist er mit seinen Überlegungen rund um das Universum, die Planeten, die Welt, ihre Bewohner, das Material, aus dem sie bestehen, noch nicht fertig. Einfache Antworten gefallen ihm nicht. Alle Ideen, Gedanken Hans-Martin Gürtlers folgen einem Mus­ter: hinterfragen, nachdenken, neubewerten. „Jede Zeit hat seinen eigenen Geist. Und momentan empfinde ich diese Zeit als die Phase der Kontemplation. Ich stelle mir Fragen, wie „Woher kommen wir?“ und „Wo gehen wir hin?“ 

Das Jahr 2019 hatte ein zentrales Thema – den Klimawandel. Auch den Lehrer treibt das Thema um: „Den jungen Leuten von heute gehört die Welt. Und ich finde: die Alten – ich sage das mal – haben versagt. Ich finde, das Thema so negiert zu haben, über so viele Jahrzehnte, hat erst dazu geführt, dass es jetzt so ist. Immer wurde der Profit als oberste Maxime gesetzt. Immer!“
Irgendwann, so Hans-Martin Gürtler, müsse die Menschheit ihr Tun zwangsläufig überdenken. Wasser- und Ressourcenknappheit werde den Menschen zum Überdenken zwingen. 

Argumente, dass die Erde immer wieder von wechselnden Klimaeinflüssen beherrscht wurde und der Mensch auf sein Ende möglicherweise gar keinen Einfluss nehmen kann, überzeugen ihn nicht: „Die Eiszeiten entstanden in Dimensionen, die weit über unseren Horizont gehen. Können Sie sich eine Million Jahre vorstellen? Ich nicht. Uns betrifft das Leben jetzt. Jetzt müssen wir über unseren Umgang mit dem Planeten nachdenken.“ 

2012 wäre Greta Thunberg gar nicht ernst genommen worden

Für den Lehrer ist klar: Es muss sich etwas ändern. Und der Zeitgeist sei jetzt da: „Noch 2012 wäre Greta Thunberg gar nicht ernst genommen worden.“ Auch das Interesse und Verhalten der Schüler habe sich enorm gewandelt. Eine Entwicklung, die den Lehrer begeistert. Doch trotz aller Wünsche, dass der Mensch das Steuer nochmal rumreißt, weiß er als Hobby-Forscher auch: „Kein Hahn wird nach uns krähen.“ Denn auch das lehrt uns der Raum, ein Gefühl von Demut: „Der Homo Sapiens, der moderne Mensch, lebt erst seit 200 000 Jahren auf der Erde. Die Dinosaurier lebten 145 Millionen Jahre hier. Und auch sie dachten, die seien die Könige.“ 

Text u. Foto: Joanna Figgen