Corona-Demonstrationen in Berlin

"Klare Kante zeigen"

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Die Bilder von Demonstranten vor dem Reichstagsgebäude in Berlin haben Stephan Wendt wütend gemacht. Der Meppener Gemeindereferent fordert, dass sich die Kirche dazu unbedingt lauter äußern muss.


Stephan Wendt arbeitet als Gemeindereferent in Meppen
und hat sich im Pfarrbrief zu der Berliner Demo geäußert.
Foto: privat

Als Sie die Bilder von den Corona-Demonstrationen und die Szenen vor dem Berliner Reichstagsgebäude gesehen haben, haben Sie sich dazu spontan im Pfarrbrief geäußert. Was ging Ihnen durch den Kopf? 

Das hat mich wirklich schockiert. Ich hätte nie gedacht, dass sich so viele Menschen mit unterschiedlichen Ideen und Demonstrationsgründen nebeneinanderstellen und versuchen, das Reichstagsgebäude zu stürmen. Wenn man bei solchen Demonstrationen mitmacht, muss einem klar sein, dass man dort eben auch mit Menschen steht, die rechtsradikales Gedankengut vertreten. Wenn ich neben mir eine Reichsfahne sehe, weiß ich doch, dass ich am falschen Ort bin, warum gehe ich dann nicht weg? 

Waren Sie nur schockiert?

Nein, das hat mich auch richtig wütend gemacht, weil es eine Respektlosigkeit darstellt vor diesem großen Symbol – dem Freiheitssymbol unserer Demokratie, in dem unser Parlament sitzt. Solche Aktionen sind ein absolutes NoGo.  

Viele von den Teilnehmern trugen keine Mund-Nase-Maske ...

Stimmt. Wir sehen tatsächlich auf diesen Bildern keine einzige Maske. Und auch, wenn ich es blöd finden würde, eine Mund-Nase-Maske zu tragen, hätte ich mich immer noch an geltende Regeln zu halten – das ist das Grundprinzip unserer Gesellschaft. 

Viele Politiker sprachen von „beschämenden“ Bildern. Aber reicht es, nur beschämt zu sein?

Nein – beschämt zu sein, reicht da einfach nicht aus. Die Politiker müssen mehrere Schritte weitergehen. Wir reden heute vielleicht viel, aber wir machen nicht immer viel. Wenn Politiker Reden halten – wer liest denn das wirklich noch durch oder guckt sich das im Fernsehen an? Wir müssen gerade bei solchen Vorfällen und Themen viel aktiver werden und aufklären: über unsere Geschichte, über Fremdenfeindlichkeit und Rassismus und dann auch Medien, die alle nutzen, professionell anwenden.

Dürfen Christen die Reichsflagge schwenken oder extreme Parteien wie die AfD wählen?

Meine Meinung ist da ganz eindeutig: absolut Nein. Das ist für mich mit dem Christsein nicht vereinbar. Wenn ich Parteien wie die AfD wählen würde, dann wählte ich nachgewiesenermaßen rechtsradikales Gedankengut in ein Parlament, so groß kann der Kompromiss im Wahlprogramm gar nicht sein, dass man dennoch AfD wählt. Das muss jedem klar sein. Aber gleichzeitig würde ich mir wünschen, dass sich jede Christin und jeder Christ auch die Programme aller anderen Parteien anschaut, ob die mit ihren oder seinen Vorstellungen vereinbar sind. Das Wahlrecht ist ein hohes Gut mit großer Verantwortung. Das muss uns wieder klarwerden.

Finden Sie, dass die Kirche sich entschieden genug gegen Populismus und rechtsgerichtete Strömungen positioniert?

Ich habe gerade nach diesen Bildern aus Berlin eindeutige Stellungnahmen von der Amtskirche, von den Bischöfen vermisst. Wenn es überhaupt kam, dann viel zu spät. Ich finde überhaupt, dass die Kirche sich sehr viel lauter als bisher zu diesen Themen äußern muss. Wir müssen aus der Komfortzone eines nur stillen Glaubens heraus. Und zwar nicht nur mit irgendwelchen frommen Worten, sondern wir müssen richtig klare Kante zeigen. Kirche – Amtskirche und auch jeder einzelne Christ – darf sich nicht aus der Politik heraushalten. 

Gilt das auch für andere Themen?

Absolut, auch bei anderen gesellschaftlich wichtigen Themen äußert sich die Kirche meiner Meinung nach nicht laut oder deutlich genug. Sehen wir uns Corona an. Das ist ein existenzielles Thema, das jeden betrifft. Aber wir als Kirche schweigen dazu. Es heißt immer, wir müssen nah bei den Menschen sein. Ich habe das Gefühl, dass wir diese Nähe nach und nach verlieren, weil wir zu oft die Klappe halten. Wir haben als Kirche einige Themen wie die Frauenfrage, Leitung in Gemeinden oder Machtmissbrauch – da schießen wir uns permanent ins Aus. Aber es gibt doch Themen, da könnten wir klare Kante zeigen, weil wir eine gute und lebendige Botschaft haben. Immer mehr Menschen kehren der Kirche doch auch den Rücken, weil wir in den wichtigen Themen zu still bleiben.

Was kann denn jeder von uns selbst tun?

Ich denke da an die Schriftworte des vergangenen Sonntags – zum Beispiel aus Ezechiel 33 oder Matthäus 18. Da heißt es, wenn sich jemand falsch verhält, hat jeder von uns die Aufgabe, sie oder ihn zur Einsicht und auf den richtigen Weg zu bringen. Sonst musst du dich vor Gott verantworten. Diesen Gedanken der Unterlassung finde ich eklatant wichtig. Wir dürfen nicht nur still unseren Glauben leben. Das haben wir viel zu lange gemacht, auch weil es vielleicht in unseren Gemeinden so gemütlich war. Jeder kann in seinem Umfeld, im Sportverein, im Büro, in der Nachbarschaft die Stimme bei Fremdenfeindlichkeit und Alltagsrassismus erheben.

Würden Sie sich mal eine deutliche Predigt dazu wünschen?

Ja, bitte! Und wir könnten doch in unseren Kirchen dazu viel mehr Veranstaltungen anbieten. Jugend mehr politisch aufklären, Infoveranstaltungen zum sicheren Aufspüren von richtigen und falschen Nachrichten, Veranstaltungen zum Austausch über Wahlprogramme und ethische Gesellschaftsfragen anbieten; gerade auch vor den nächsten Wahlen. Die Frage ist doch: Wie gehen wir als Gläubige, als Gemeinden, als Dekanat, als Bistum mit solchen Themen, mit solchen Vorfällen wie in Berlin um. Berlin mag weit weg sein. Aber wir wissen doch genau, dass wir auch hier rechtsradikale Strömungen, Alltagsrassismus und politische Gleichgültigkeit haben. Und wir müssen aufpassen, dass unsere Werte dadurch nicht immer mehr verschwimmen oder sich schlimmstenfalls nach rechts verschieben.

Interview: Petra Diek-Münchow