Interview mit Bischof Ulrich Neymeyr zum Tag der Deutschen Einheit

"Laufen auf eine brisante Situation zu"

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In diesem Jahr finden die Feiern zum Tag der Deutschen Einheit in Erfurt statt, inklusive Festgottesdienst. Im Interview spricht Bischof Ulrich Neymeyr darüber, wie man dabei auch Nicht-Christinnen und Nicht-Christen einbezieht und wo es in Sachen Einheit noch an Wertschätzung mangelt.

Foto: kna/Dominik Wolf
Bischof Ulrich Neymeyr spricht im Interview über die Annäherung zwischen Ost- und Westdeutschen. Foto: kna/Dominik Wolf

Herr Bischof Neymeyr, warum sollte man den Jahrestag der Deutschen Einheit mit einem Gottesdienst begehen?
Wir haben im Grundgesetz gleich zu Beginn den Gottesbezug - in Verantwortung vor Gott und den Menschen - und von daher ist es auch gerechtfertigt, den Nationalfeiertag mit einem Gottesdienst zu beginnen.

In Ostdeutschland sind Christinnen und Christen deutlich in der Minderheit, auch bundesweit gehören inzwischen weniger als die Hälfte der Bevölkerung einer Kirche an. Gibt es vor dem Hintergrund nicht doch eine gewisse Begründungspflicht?
Die vielen Menschen hier, die keine Religion haben - etwa 70 Prozent - erlebe ich als sehr tolerant. Zu größeren Festen wie dem Thüringentag etwa gehören selbstverständlich ökumenische Gottesdienste dazu. Und hier in Erfurt ist es so: Die Menschen wissen, dass der Dom nicht nur für die Christinnen und Christen da ist. Wir laden ja beispielsweise an Weihnachten ausdrücklich auch sie zu einer Feier im Dom ein.

Wie nimmt denn der Gottesdienst die Menschen, die eigentlich nichts mit Kirche anfangen können, mit und bezieht sie ein?
Das muss man bei der Gestaltung schon gut im Blick haben. Zum einen ist es die Aufgabe des Predigers - am 3. Oktober wird es der evangelische Landesbischof Friedrich Kramer sein. Zum anderen ist es wichtig, Gebete und Fürbitten so zu formulieren, dass man sie auch als Wunsch verstehen kann und jemand ohne Gottesbezug sich anschließen kann.

In der Ökumene gibt es die Formel von der "Einheit in versöhnter Verschiedenheit". Wenn wir das auf das Zusammenwachsen von Ost und West nach 32 Jahren übertragen: Wo braucht es noch mehr Annäherung, wo mehr Respekt und Akzeptanz von Verschiedenheit?
Zur Akzeptanz gehört zunächst einmal die Kenntnis des anderen und seiner anderen Geschichte. Ich freue mich über jeden Westdeutschen, der sich aufmacht, Ostdeutschland und seine Menschen kennenzulernen. Und ich erlebe leider viele, die noch nie hier waren, in den "neuen" Bundesländern - wie man sie übrigens auch nicht mehr bezeichnen sollte.

Gibt einen konkreten Punkt, wo mehr Angleichung nottut?
Es gibt unterschiedliche Regionen in Deutschland. Aber wir sind kein gespaltenes Land mehr. Unüberwindbare Differenzen sehe ich eigentlich zwischen Ost und West nicht. Vielleicht braucht es aber manchmal ein bisschen mehr innere Gelassenheit beim Umgang miteinander. Und ich denke, es braucht noch mehr Wertschätzung von Westdeutschen, welch große Leistung der Ostdeutschen es war, eine Diktatur mit einer friedlichen Revolution abzuschütteln und eine neue Gesellschaftsordnung aufzubauen.

Wo haben Sie als Westdeutscher gelernt, ein "Anderssein" von Ostdeutschen wertzuschätzen?
In vielen Gesprächen mit Menschen, die die DDR und die Wende erlebt haben und mir erzählen, mit wie wenig Geld sie jetzt auskommen müssen, weil sie etwa in der Wendezeit ihre Arbeit verloren haben und nun selbst mit akademischem Abschluss kaum Rente bekommen. Auch Berichte, wie die Menschen unter der Diktatur im Alltag gelitten haben, beeindrucken mich immer wieder.

Wir haben vor einem Jahr mit Ihnen über die Polarisierung der Gesellschaft, insbesondere in Ostdeutschland, gesprochen. Damals haben Sie prognostiziert, das werde sich mit wechselnden Themen fortsetzen. Sie haben Recht behalten. Steigende Energie- und Lebensmittelpreise treiben die Menschen nun auf die Straßen. Befürchten Sie bei den Protesten eine neue Schärfe, weil es jetzt für manche Menschen tatsächlich existenziell wird?
Ja, das fürchte ich schon. Wenn Menschen sehen, dass sie mit dem Geld nicht mehr hinkommen, dass sie von Zusatzleistungen abhängig werden, dann wird die Auseinandersetzung mit Sicherheit schärfer werden. Hinzu kommt mit Blick auf den Ukraine-Krieg: Sowohl vom linken wie vom rechten Rand kommen jetzt ähnliche Schlagworte und Forderungen nach einem Ende des Ukraine-Kriegs, was aber de facto eine Kapitulation der Ukraine bedeutet. Es ist schon eine brisante Situation, auf die wir da im Herbst zulaufen.

Macht es die Tatsache, dass es bei den Protesten jetzt um Ängste vor sozialen Einschnitten geht, leichter für Kirchen und Caritas, Anknüpfungspunkte für Vermittlung zu finden?
Das denke ich schon. Unsere Sozialdienste überlegen bereits, welche Beratungs- und Hilfsangebote sie machen können, um Menschen zu helfen und sie zu unterstützen. Das kann den Spannungen in der Gesellschaft entgegenwirken. Ein Beispiel: Die Energiekostenpauschale muss versteuert werden, das führt zu Mehreinnahmen auch bei der Kirchensteuer - in unserem Bistum wollen wir dieses Geld komplett an die Caritas geben, damit verstärkt den Menschen geholfen werden kann, die am meisten unter der Situation leiden.

Bekommen Sie Signale oder Bitten aus der Politik, gemeinsam an einem Strang zu ziehen und konkret zu kooperieren, um diese Herausforderungen zu meistern?
Nein, das merken wir so deutlich leider noch nicht. Die Caritas und anderen freien Träger müssen weiter um ihre Zuschüsse kämpfen.

kna