Misereor-Partner helfen in den Slums Indiens
Leben an den Bahngleisen
Leben in ständiger Gefahr: vertrieben zu werden, zu erkranken, zu sterben. Eine Misereor-Partnerorganisation hilft in zwei Slums im indischen Patna.
"Drei bis vier Leute etwa werden pro Monat vom Zug überfahren." Schwester Dorothy erzählt das eher beiläufig, während der nächste überfüllte Regionalzug vorbeirauscht. Nicht mal zwei Meter hinter den armseligen Hütten aus Bambus, Holz, Plastik und Wellblech. Und hinter den Kindern, die eben noch buchstäblich auf den Gleisen gespielt haben und erst zur Seite gesprungen sind, als der Zugführer mehrmals das durchdringende Alarmsignal betätigt hat. "Nur drei bis vier?" ist man fast geneigt zurückzufragen.
Die Menschen leben direkt an den Gleisen in der ostindischen Zwei-Millionenstadt Patna. In einem von insgesamt 28 Slums, die Schwester Dorothy und ihre Mitarbeiter hier betreuen. Die 65-jährige katholische Ordensfrau ist Gründerin und Leiterin der Organisation JKGVS (Vereinigung für Wohlfahrt und ländliche Entwicklung), die mit dem deutschen Entwicklungshilfswerk Misereor zusammenarbeitet. Ein Beispielprojekt der aktuellen Fastenaktion, die erstmals gemeinsam mit der Kirche in Indien veranstaltet wird und die mit der Kollekte in allen katholischen Gottesdiensten am 18. März, dem Misereor-Sonntag, ihren Höhepunkt erreicht.
Papst Franziskus ruft immer wieder auf, an die Ränder zu gehen. "Und davon gibt es verdammt viele in Patna", erlebt Schwester Dorothy jeden Tag aufs Neue. Wenn sie ihre Runde dreht durch die Armenviertel und sich anhört, wo es brennt und wie sie vielleicht helfen kann. Und es brennt an allen Ecken und Enden. Die Gefahr an den Gleisen ist nur ein Problem von vielen. Ähnlich lebensgefährlich ist es etwa in anderen Slums direkt neben vielbefahrenen Straßen.
Kein Strom, keine Toiletten, kein sauberes Wasser
Darüber hinaus haben die meisten Menschen keine Toiletten, keinen Strom und keinen oder kaum Zugang zu sauberem Trinkwasser. Hier im Staub neben den Gleisen zum Beispiel gibt es für rund 500 Bewohner eine einzige Wasserstelle, wo sie sich selbst und ihre Kleidung waschen und wo sie auch das Wasser zum Kochen und für ihre Hunde und Kühe holen.
Die Menschen hier sind Tagelöhner, Straßenhändler, Rikschafahrer. Ohne regelmäßiges Einkommen leben sie von der Hand in den Mund. "Ich würde meine Kinder gerne zur Schule schicken", berichtet eine der Frauen, "doch viel zu oft kommt mein Mann abends ohne Geld zurück, weil es einfach keine Jobs gab an dem Tag". Mit leiser Stimme schickt sie noch kaum hörbar hinterher: "Wir sind von der ganzen Welt vergessen. Keiner kümmert sich um uns - außer Schwester Dorothy."
Die Wünsche sind bescheiden. Kaum einer träumt von Reichtum, Auto oder einem gemauerten Haus in einer schöneren Gegend. "Wir wollen einfach nur die Sicherheit, dass wir hier bleiben können", ergänzt eine ältere Frau - "und dass die Angst endlich aufhört, morgen könnten die Bulldozer kommen und alles plattmachen, damit neue Wohnungen für die Reichen gebaut werden".
Ihre Enkelin nickt dazu und erzählt, wie sie sich die eigene Zukunft vorstellt: "Ich möchte mal bei einer Bank arbeiten. Dann verdiene ich selbst Geld und kann meine Familie unterstützen und den anderen hier im Dorf helfen, wie sie mit Geld umgehen können."
Ein Slum als Heimat, die bedroht ist
Wenige Kilometer weiter: der nächste Slum. Knapp 250 Familien leben auf einer sumpfigen Brache am Rand eines kleinen Flusses zwischen zwei Hauptverkehrsstraßen. Wobei Fluss eine sehr wollwollende Beschreibung ist für das klägliche Rinnsal, das zudem bei näherem Hinsehen und Riechen stark an eine Kloake erinnert. Nicht ohne Grund, wie der Blick auf die notdürftig zusammengezimmerten Plumpsklos am Rand verrät: ein paar Stangen, Bretter und Planen über einem Loch, das direkt im Fluss endet.
Doch die auf den ersten Blick so trostlos wirkende Ansammlung von Hütten ist für die Menschen hier Heimat: "Für manche schon seit 40 Jahren", berichtet Rukmini Mato. Die 62-Jährige und ihr drei Jahre älterer Mann Gulabo gehören dazu. Seit mehr als 20 Jahren ist sie die Dorfälteste, die gewählte Vorsteherin der Gemeinschaft.
Und wer der charismatischen Frau mit dem hellblauen Sari auch nur kurz zuhört, weiß genau warum. "Wir lassen uns hier nie mehr vertreiben, auch wenn die Stadt es noch so oft versucht", erklärt sie kämpferisch. Und berichtet dann von einem Hungerstreik vor wenigen Wochen, als sie mit zwei anderen Frauen 48 Stunden vor dem Haus der Stadtverwaltung demonstrierte - mit Erfolg. Einmal mehr haben sie verhindert, dass die Stadt sich Teile des Geländes unter den Nagel reißt.
Auch dabei helfen Schwester Dorothy und ihre Mitstreiter: "Wir besorgen Anwälte und machen Rechtsberatung. Und vor allem bilden wir die Menschen weiter, damit sie nicht nur ihre Rechte genau kennen, sondern sie auch selbst durchsetzen können." Die Erfolge sind offensichtlich, wie Rukmini betont: "Unseren ersten gemeinsam gebauten Versammlungsraum haben uns die Behörden damals noch ruckzuck weggenommen, um eigene Büros dort einzurichten. Das passiert uns nicht noch einmal!"
Längst haben sie ein neues Versammlungsgebäude gebaut, wo die Kinder ab drei einen Kindergarten besuchen können und später eine Art Vorschule. Nachmittags und abends gibt es Nähkurse und Fortbildungen, etwa zur Kosmetikerin. Dazu bieten ältere Kinder und Jugendliche den Jüngeren Nachhilfekurse an. Selbst eine eigene Schule haben Rukmini und ihre Leute aus dem sumpfigen Boden gestampft. Auch die weckt Begehrlichkeiten bei der Stadt Patna, doch Rukmini und die anderen Slumbewohner - darunter ihre beiden Kinder und fünf Enkel - wissen sich zu wehren. Schwester Dorothy und ihren Leuten sei Dank.
Kinder hoffen auf bessere Zukunft
Zwei Armenviertel von 28, die die Organisation betreut. In einer Millionenstadt, in der zwei von drei Menschen unter der Armutsgrenze leben. Viele sind Dalits, also Kastenlose oder Unberührbare am untersten Rand der Gesellschaft. Und doch blicken die meisten hier mit Hoffnung in die Zukunft: "Ich lerne viel in der Schule und werde später Lehrerin oder Ärztin, um anderen zu helfen", schwärmt eines der Mädchen. "Schön wäre es", schmunzelt ihre Mutter, um dann schnell noch zu ergänzen: "Auf alle Fälle werden unsere Kinder die Schule abschließen und dadurch bessere Chancen haben als wir - dafür kämpfen wir mit allem, was wir haben!"
Zeugnisse, die auch den deutschen Misereor-Bischof Stephan Burger bei seinem Besuch vor Ort bewegen: "Entscheidend ist auch, dass die Ärmsten hier nicht bloße Hilfsempfänger sind, sondern selbst in die Lage versetzt werden, für ihre Rechte und ihre Würde zu kämpfen und ihre Lebensumstände zu verbessern." Damit hier möglichst bald keiner mehr unter die Räder kommt.
kna