Anstoß 27/22
Leben und leben lassen
In meinem Gartenschuppen haben sich Rotschwänzchen ein Nest gebaut. Auf einem Balken, der an einer Stelle von einem Netzkorb für meinen Rasenmäher verdeckt wird, haben sie sich vor etwa vier Wochen niedergelassen.
Inzwischen sind die Eier ausgebrütet und vier junge Vögelchen recken ihre Schnäbelchen aus dem Nest oder dösen vor sich hin.
Mein Sohn hat die Order, jetzt erst einmal nicht in den Schuppen zu gehen, um das Familienglück nicht zu stören. Ich schleiche mich auch nur ganz leise hinein, wenn ich unbedingt etwas brauche, meine Gartenhandschuhe oder die Hacke. Ich arrangiere mich mit den Rotschwänzchen.
Leben und leben lassen. Diesen Satz zitierte neulich jemand als sein persönliches Lebensmotto und er versteht darunter, dass er so leben möchte, wie es ihm gefällt und dass er dies den anderen auch zugesteht. Aber geht das so einfach? Mein „gut leben“ hat seine Grenzen, nämlich dann, wenn die anderen dadurch nicht mehr gut leben können. Einigen Ländern und ihren Bewohnern geht es gut (uns zum Beispiel), während es anderen erbärmlich geht. Das ist bittere Realität. Unermüdlich legen Hilfswerke wie Misereor oder Missio den Finger in diese Wunde. Es geht nicht nur darum, Geld zu spenden (trotzdem damit bitte nicht nachlassen), sondern darum, etwas zu ändern.
Jetzt kommt die Schwierigkeit: mit dem Ändern bei sich selbst anfangen. Leben und leben lassen. Für sich gut sorgen, das ist das Eine. Es ist auch wichtig. Aber es darf nicht über dem „leben lassen“ stehen. Leben lassen zieht, glaube ich, zwangläufig verzichten nach sich. Verzichten, das Wort mit dem negativen Beigeschmack, bedeutet „einen Anspruch aufgeben“. Ich habe mich gefragt, ob das Wort verzichten eigentlich nur negativ verstanden werden kann. Wäre es nicht viel besser zu fragen, was gewinne ich durch (m)einen Verzicht?