Impuls zum Sonntagsevangelium am 07.04.2024

Lebendig, aber gezeichnet

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Notarztwagen, Einsatz
Nachweis

Foto: imago/ Rolf Poss

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Ein schwerer Unfall kann das Leben in Stücke brechen lassen. So wie bei Gerd Queißer

Jesus zeigt sich nach seiner Auferstehung im Kreis seiner Jünger. Er lebt, aber ist verletzt; seine Wunden sind bleibende Erinnerungen an das Kreuz. Auch Gerd Queißer ist von Narben gezeichnet. Er ahnt, was Erlösung und Auferstehung bedeuten könnten.

Es war ein einziger Schrei, bevor er bewusstlos wurde. Ein „Schmerz über dem Schmerz“. So schildert Gerd Queißer den Moment, als ihm klar wurde, dass er jetzt stirbt. Was er in den Medien manchmal über Nahtoderfahrungen hört, klingt ihm zu romantisch. Bei ihm gab es keine vorüberziehenden Lebenserinnerungen und erst recht kein Licht am Ende des Tunnels, sondern Schmerzen, einen nicht endenden Schrei und die Gewissheit, dass sein Leben jetzt endet.

Der heute 66-Jährige war Rettungsassistent und Ausbilder auf einer Rettungswache in Delitzsch in Sachsen, als ein Unfall im Herbst 2001 sein Leben auf den Kopf stellte. Als Fahrer eines Rettungswagens war er mit hoher Geschwindigkeit unterwegs zu einem Einsatz. Doch dann wurde er selbst zum Notfall: Er stieß mit einem entgegenkommenden Lkw zusammen.Wie lebt es sich seitdem als Verwundeter, von dem auch andere dachten, dass er bald aufhört zu atmen? „Platt wie eine Briefmarke“ beschreibt Queißer seinen im Fahrzeug zusammengequetschten Körper nach dem Aufprall. Auch später in den Wochen und Monaten im Krankenhaus gab es noch Momente, in denen er fast gestorben wäre. Dass er heute wieder sprechen und laufen kann, hat niemand geahnt.

Queißer berichtet von über 60 Operationen seit dem Unfall, von Schmerzen und Narben von der Brust bis zum großen Zeh. Doch er will kein Opfer sein und tut, was er kann, um unter Leute zu kommen.

Das Evangelium des zweiten Sonntags in der Osterzeit erzählt, wie Jesus zurück ins Leben kam. Aber sein Freund Thomas glaubt nicht, was die anderen Jünger ihm erzählen. Als der Auferstandene in ihren Kreis tritt, will Thomas ihn berühren, seine Wunden an Händen, Füßen und Brust anfassen und fühlen, ob es wirklich Jesus ist, der da vor ihm steht.

Ist das Leben überhaupt noch lebenswert?

Die Geschichte zeigt: Nichts ist wie vorher. Jesus ist als Verletzter zu den Jüngern gekommen. Er sieht nicht aus wie ein strahlender Held, sondern ist vom Leiden gezeichnet. Und dennoch wünscht er seinen Jüngern Frieden. Es scheint ihm gut zu gehen. Hat er sein Leiden einfach weggesteckt? Kann man nach Verwundungen Frieden finden? Kann man nach so viel Schmerz noch an Gott glauben?

Gerd Queisser
Der ehemalige Rettungsassistent Gerd Queisser. Foto: Vinzent Antal

Queißer sind an der Geschichte zunächst Thomas’ Zweifel wichtig, denn die hatte er auch, besonders in den Jahren auf den Unfallstationen der Krankenhäuser: Ob er überhaupt noch lebenswert ist? Ob er überhaupt jemals wieder einen Menschen sehen wird? Ob jemand zu Besuch kommt? Oder hatten ihn seine Freunde und Bekannten nach der langen Zeit im Koma vergessen? „Wenn Sie nicht unter Leuten sind, nur Menschen in Kitteln um sich haben, nur an Maschinen hängen, piep, piep, piep, keine anderen Geräusche hören, das tut schon weh. Da habe ich ganz viel gezweifelt“, sagt er. Sprechen oder sich bewegen konnte er lange Zeit nicht. Oft genug dachte er: „Das ist doch wie im Fegefeuer, lasst mich doch in Frieden, lasst mich doch sterben!“ 

Katholisch war Queißer schon immer. Während seiner Berufstätigkeit schaffte er es jedoch selten in die Kirche. Im Krankenhaus waren die Seelsorger seine Verbindung mit Gott, erzählt er heute. Viel Besuch konnte er auf Intensivstationen ja auch nicht empfangen. Doch die Dominikaner aus seiner Gemeinde ließen ihn hoffen, dass es da draußen in der Welt einen Platz für ihn geben würde. Er hielt durch, lernte wieder selbst zu atmen, zu sprechen, zu essen und auf zwei Beinen zu stehen.

Wenn er es schafft, nimmt Queißer heute in seiner Gemeinde St. Georg in Leipzig am Sonntagsgottesdienst teil. Er fährt ein Stück mit seinem Automatikauto und humpelt dann den restlichen Weg bis in die Kirchenbank. In seinem linken, jetzt kürzeren Unterschenkel hat er mehrere Knochenersatze. Die Nerven blieben kaputt und so macht er jeden Schritt mit Bedacht.

Er erinnert sich noch an seinen ersten Gottesdienstbesuch, viele Jahre nach dem Unfall. Mit dem Rollstuhl ist er bis an die Treppe gefahren, mit den Gehhilfen stieg er Stufe um Stufe zur Kirchentür hinauf. Von den Leuten erkannte ihn niemand. Er war lange weg.

Wieder unter Menschen zu sein, ist eine kleine Auferstehung

Seitdem engagiert er sich in der Gemeinde, organisiert die Treffen der Männergruppe. Neulich haben sie 60 Rosenstöcke umgesetzt, damit sie beim Neubau des Gemeindezentrums nicht weggebaggert werden. Wenn man ihn fragt, was für ihn Erlösung oder Auferstehung bedeuten, dann ist es, wieder unter Leuten sein zu können. „Das tut richtig gut“, sagt er. 

Heute begleitet ihn ein Satz durch den Alltag, den Paulus an Timotheus geschrieben hat. Er will ihn unbedingt erwähnt wissen: „Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.“ (2 Timotheus 1,7) Verzagtheit habe er genügend gehabt, doch er habe Kraft und Liebe unter den Menschen wiedergefunden, sagt Queißer.

Und die Wunden, die Schmerzen? Die sind auch da. Sie bremsen ihn. Wenn es stürmt und wechselhaftes Wetter ist, muss er zu Hause bleiben. Manchmal, berichtet er, bekommt er Anfälle und muss Notfallmedikamente einnehmen. „Ich habe Tage, wo ich alles absagen muss, wo ich vernünftig sein muss“, sagt er. Vernünftig sein heißt wohl auch, bei sich selbst zu sein. Er sagt, er kann nur so viel tut, „wie Gott mir die Kraft schenkt“.

Zur Person: Gerd Queißer hat als Rettungsassistent vielen Menschen in Not geholfen. Heute engagiert er sich ehrenamtlich in seiner Pfarrei St. Georg im Norden von Leipzig.
Barbara Dreiling