Wie bindend sind Gesetze?

Liebe vor Recht

Wie bindend sind die Gesetze? Gespräch mit dem Kirchenrechtler Thomas Schüller.

Das liest man selten. Ein Loblied auf das Gesetz: „Welche große Nation besäße Gesetze und Rechtsvorschriften, die so gerecht sind wie alles in dieser Weisung, die ich euch heute vorlege?“, heißt es in der ersten Lesung an diesem Sonntag. Heute sind wir eher gewohnt, über Gesetze, Verordnungen, Gesetzeshüter und Gerichte zu klagen. Die neue Datenschutzgrundverordnung? Ein bürokratisches Monster. Das juristische Hick-Hack um den Terrorverdächtigen Samir A., der erst Deutschland verlassen und dann zurückgeholt werden musste? Ein Stück aus dem Tollhaus. Weltfremde, naive Richter, lautet die Klage.

Dabei können wir uns glücklich schätzen. Als große Nation, als weises und gebildetes Volk mit Gesetzen, die unseren Alltag überhaupt erst möglich machen. „Eine uralte Menschheitserfahrung“ nennt der Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller, dass sich in menschlichen Gemeinschaften Regeln ausbilden, erst ungeschrieben, dann weiter zu komplexen ausformulierten Gesetzeswerken, die Regalmeter weit reichen. Das Gesetz schützt: Es schützt den Schwächeren vor der Macht des Stärkeren – vor dem brutalen Schläger, dem gierigen Arbeitgeber, dem übermächtigen Staat. Es regelt die Verfahren in einer Gemeinschaft. Ohne Regeln, ohne Recht wäre ein Zusammenleben nicht möglich. Willkür entstünde.

Auch Religionen brauchen Regeln und Gesetze, davon ist Schüller überzeugt. Aus ähnlichen Gründen wie im staatlichen Gemeinwesen. Um die Schwächeren vor Willkür eines Amtsträgers zu schützen, um Verfahren zu regeln: Wer kann ein Sakrament empfangen? Wie kommt jemand in ein Amt? Als gemeinsames Regelwerk einer Glaubensgemeinschaft schaffen religiöse Gesetze aber auch Identität. Sie zeigen an, wer dazugehört.


„Jesus war ein gesetzestreuer Jude“

Ganz deutlich lässt sich das im Judentum erkennen: Ein zentrales Identitätsmerkmal ist die Beschneidung männlicher Juden, egal ob ihre Familien nun orthodox oder liberal sind, in Israel, Amerika oder Deutschland leben. Auch die Sabbatruhe und Reinheitsvorschriften – etwa das koschere Essen – spielen für die Zugehörigkeit zum Judentum eine große Rolle. Zudem soll das Recht „die zentralen Glaubensinhalte schützen, die unverbrüchlich über die Zeiten bestehen sollen“, sagt Schüller. Schutz, Identität und gemeinsame Glaubensüberzeugungen bietet das religiöse Gesetz, auch das oft gescholtene katholische Kirchenrecht.

Jesus aber scheint das Recht nicht so ernst zu nehmen. Im Evangelium dieses Sonntags wettert er – wieder einmal – über die gesetzestreuen Juden, die Pharisäer, die so genau auf die Einhaltung des Gesetzes pochen. Doch an anderer Stelle heißt es, Jesus wolle keinen Buchstaben des Gesetzes aufheben. Was denn nun? „Jesus war gesetzestreuer Jude“, sagt Kirchenrechtler Schüller. „Er will darauf hinweisen, dass es nicht reicht, nur formal auf die Inhalte bestimmter Rechtsnormen zu verweisen.“

Wer sich nur an den Buchstaben des Gesetzes orientiert, läuft Gefahr, in die Irre zu laufen. Denn Recht allein kann nicht das Gute schaffen und für Gerechtigkeit sorgen. Recht kann auch pervertiert werden: Bei den Nazis etwa ging es oft streng nach Recht und Gesetz zu – Todesurteile wurden nach dem Buchstaben des Gesetzes verhängt und vollstreckt. Dennoch bleiben diese Urteile Unrecht. Auch heute noch kann ein Urteil streng nach den Buchstaben des Gesetzes Unrecht und Ungerechtigkeit bedeuten, weil ein Gesetzgeber eben nicht jeden einzelnen Fall vorhersehen kann.

„Jesus stellt die Liebe Gottes über das Recht. Er relativiert das Recht, ohne es infrage zu stellen“, sagt Schüller. Es kommt also auf den Geist eines religiösen Gesetzes an. Und auf den Geist, in dem ich es befolge. „Jesu Vorwurf an die Pharisäer ist: Ihr habt ein Herz aus Stein. Ihr haltet euch bis ins kleinste Detail an die liturgischen Regelungen, seht aber nicht den Nächsten, der in der Gosse liegt, der an den Stränden des Mittelmeers landet“, sagt Schüller und liefert damit eine Übertragung in unsere Zeit gleich mit.

„Im Recht das Heil zu suchen, ist ein Irrweg. Das Recht dient dazu, den Weg zum Heil zu finden, der von Gott geschenkt wird und im Glauben verfolgt werden muss.“ Beispiel: Fastenregeln. Sie einfach umzusetzen, weil es sie nun einmal gibt, ist Unsinn. Dann kann man es besser sein lassen. Das Fasten jedoch zu nutzen, um sich dadurch immer wieder an die Gegenwart Gottes erinnern zu lassen oder durch Verzicht anderen etwas Gutes tun zu können, erfüllt die Regel mit Leben.


„Es gilt die Freiheit des Christenmenschen“

Foto: fotoliaDas Recht zu relativieren, ist aber kein Blankoscheck, sich die Gesetze nach eigenem Gutdünken zurechtzulegen. „Es gibt eine Pflicht für Katholiken, die Gesetze der Kirche zu beachten“, sagt Schüller. Katholiken sollten auch erst einmal das Wohlwollen mitbringen, dass die kirchlichen Gesetzgeber – also der Papst und die Bischöfe – Gesetze erlassen, die sinnvoll und gut sind.

„Aber“, sagt Schüller: „Es gilt die Freiheit des Christenmenschen.“ Dient eine Norm der Weitergabe des Evangeliums? Daran muss sich für den Kirchenrechtler jede Regel messen lassen. Nach diesem Kriterium könnten auch Katholiken selbst eine Norm beurteilen, befähigt durch die Taufe, aber natürlich informiert und im Glauben ringend. Eine freie, eigene Gewissensentscheidung über kirchliche Gebote zu treffen, wäre früher undenkbar gewesen. Heute ermutigt selbst der Papst dazu, etwa in seinem Schreiben Amoris laetitia. Das verlangt aber auch von jedem Gläubigen, sich mit seinem Glauben und seiner religiösen Praxis zu befassen. Auch das will das heutige Evangelium.

Von Ulrich Waschki