Projekt "Startbahn" aus Berlin
Lust an neuen Wegen
Ihr Vater ist Muslim, ihre Mutter Katholikin, sie selbst evangelische Pfarrerin: Jasmin El-Manhy steht für Aufbruch auf der ganzen Linie. "Startbahn" heißt ihr Projekt in Berlin, das die Kirche für den Kiez öffnen will.
Die backsteinerne Genezarethkirche steht mitten auf dem Herrfurth-Platz, ganz im Zentrum des belebten Schillerkiezes in Berlin-Neukölln. Auf einem Grünstreifen vor der Kirche zeltet ein Obdachloser. In einer Seitenstraße dreht Uwe Ochsenknecht mit Schauspielerkollegen in orangefarbener Müllmannmontur die neue Folge einer TV-Serie.
Um das Gotteshaus herum haben Käse- und Obsthändler Stände aufgebaut, daneben zeigen Fotos auf Stellwänden Szenen aus dem Krieg in der Ukraine: Frauen mit hoffnungslosen Augen, Väter, die ihre Kinder umarmen.
Pfarrerin Jasmin El-Manhy öffnet die gläserne Kirchentür und bittet herein ins Warme, an diesem sonnig-kalten Herbsttag. Sie ist hier geschäftsführende Pfarrerin, die Hausherrin also, und verantwortlich für das Projekt "Startbahn". Der Evangelische Kirchenkreis Neukölln brachte es im vergangenen Jahr auf den Weg und spielt mit dem Namen auf den nahe gelegenen ehemaligen Flughafen Tempelhof an.
Das Projekt soll die Kirche mehr in den Kiez integrieren und dazu beitragen, "den Glauben in noch nicht erprobten Formen zu leben", wie El-Manhy erklärt. Die Idee, Neuland zu betreten, macht Sinn: Die Austrittszahlen der beiden großen Kirchen nehmen seit Jahren zu. Seit diesem Sommer gibt es in Deutschland erstmals weniger Kirchenmitglieder als Menschen, die keiner Kirche angehören.
"Als erstes haben wir die Kirchenbänke rausgeholt", erzählt die 41-Jährige, die zu ihren schwarzen Locken einen dicken, gelben Pulli, Jeans und Turnschuhe trägt. Goldener Lidschatten glänzt in ihren Augenwinkeln. Die Tochter eines Muslims und einer Katholikin ist selbst im Neuköllner Kiez aufgewachsen, sie ist hier zu Hause. Ihr geht es darum, "den Raum zwischen den Religionen, zwischen den Spiritualitäten zu finden".
Die "Startbahn" solle offen sein für Menschen, "die eine transzendente Beziehung suchen, die sie vielleicht nicht einmal Gott nennen", so die Seelsorgerin weiter. Dies erfordere auch für sie manchmal den Verzicht darauf, "den Dingen einen Namen zu geben" - was ihr mitunter schwerfalle. "Ich bin Pfarrerin, ich liebe auch den klassischen Gottesdienst am Sonntagmorgen", sagt El-Manhy mit Nachdruck.
W-Lan, Kaffee und Kunstausstellungen
Im Eingangsbereich des Gotteshauses steht ein "Gebetomat": Wer ihn anstellt, kann Gläubigen der verschiedenen Weltreligionen beim Beten zuhören. Der Kirchenraum dahinter öffnet sich weit, ganz ohne Zwischenwände. Ein weicher Teppich liegt in der Mitte, darauf verstreut farbige Kissen.
"Muggelig", findet El-Manhy. Viele Eltern nutzen den Raum als Treffpunkt, um ihre Kinder krabbeln zu lassen und sich austauschen zu können. "Ich finde es gut, wenn die Menschen diesen Ort hier als ihren Ort annehmen", sagt sie.
Montags bis freitags von 10 bis 15 Uhr gibt es in der Kirche freies W-Lan. Man kann Kaffee trinken und sich ausruhen, Kunst-Ausstellungen oder Tanzveranstaltungen besuchen oder an politischen Diskussionen teilnehmen. Ein Segensbüro organisiert Hochzeiten und andere Segensfeiern, eine Bestatterin berät und hilft im Todesfall.
"Manche sagen, dass sie hier seit langem eine glückliche Erfahrung mit der Kirche gemacht haben", so die Pfarrerin. Was nicht heißt, dass das Projekt jedem gefällt: "Es gibt auch Kritiker unter den Gemeindemitgliedern. Und auch atheistische Menschen meiden uns manchmal", gibt Jasmin El-Manhy zu.
Auf der Empore haben es sich zwei Studentinnen gemütlich gemacht, mit ihren Laptops auf dem Schoß. Ein Anblick, den El-Manhy mit Freude zur Kenntnis nimmt, kommt er doch immer noch verhältnismäßig selten vor. "Die Hemmschwelle, mit dem Laptop in die Kirche reinzugehen, ist noch groß", bedauert sie.
Sie ist es gewöhnt, das Verbindende zwischen den Religionen zu sehen. "Ich habe schon immer an Gott geglaubt", erzählt sie und lehnt sich in die Kissen zurück, die einladend auf niedrigen Sitzstufen ausgebreitet sind. "Ich hatte als Kind einen Kinderkoran, den ich sehr geliebt habe." Sie ist damals auch in die Koranschule gegangen. Und ihr war das Gebet vertraut. "Wenn ich als Kind in Ägypten war, habe ich meine Oma beten sehen."
Als sie größer wurde, hat sie der evangelische Religionsunterricht in der Schule aber mehr interessiert. "Ich habe hier den Raum bekommen, Fragen zu stellen." Nach dem Abitur ließ sie sich taufen. Später entschied sie sich für das Theologiestudium und den Beruf der Pfarrerin - zunächst zum Missfallen ihres ägyptischen Vaters. Irgendwann hat er sich aber mit ihrer Berufswahl ausgesöhnt.
"Vielleicht, als er verstanden hat, dass ich Pfarrerin sein und trotzdem heiraten kann", erzählt sie mit einem leichten Lächeln. Bei seiner anfänglichen Reserviertheit habe er vermutlich das katholische Priesteramt vor Augen gehabt, das ihm durch seine Frau vertraut war. "Meine Verwandten in Ägypten sind vor allem froh, dass ich an Gott glaube", fügt Jasmin El-Manhy hinzu.
Ein eher unscheinbarer Altar, ein dezentes Kreuz, ein mobiles Taufbecken: Das alles ist vorhanden in dieser Kirche - als Angebot. "Die Kirche müsste viel mehr verschenken", sagt Pfarrerin El-Manhy und schaut auf ein buntes Mosaik an der Wand, das Jesus zeigt, der den im Genezareth-See versinkenden Petrus mit der Hand aus dem Wasser zieht. "Die Strukturen müssen sich ändern, viel flexibler werden. Der Glauben ist nicht dafür da, Sicherheit zu geben. Wir sollen das Vertrauen finden, das es braucht, um Neues zu bewegen."
kna