Mal ganz anders denken
Wie soll das Evangelium noch unter die Leute kommen? Alte Konzepte funktionieren nicht mehr. Die Kirche steht vor einem radikalen Wandel. Zeit, etwas Neues auszuprobieren. Zwei Tage lang haben das pastorale Profis aus ganz Deutschland getan. In einem „Barcamp“ in einem Hamburger Szeneviertel.
Wie soll eine Kirche der Zukunft aussehen? Kann sie vielleicht anders sein? Kann man anders über sie reden? Ganz andere Menschen vom Evangelium Christi begeistern als heute? Mit diesen Gedanken wurde das zweitägige Barcamp „Tell me more“ in Hamburg geboren. Mehrere überregionale Konferenzen sowie das Bonifatiuswerk waren Veranstalter, die Federführung der Organisation lag bei Jens Ehebrecht-Zumsande (Pastorale Dienststelle Hamburg).
Das Barcamp sollte keine normale Pastoraltagung sein, und sie war es auch nicht. Es gab Hindernisse. 2021 fiel das Camp wegen Corona aus. Beim zweiten Termin am vergangenen Montag schafften es wegen des Streiks nur 40 von 60 Teilnehmern nach Hamburg. Die anderen 20 waren online dabei. Sie erlebten deshalb nicht den ungewöhnlichen Ort des Geschehens: Das „Betahaus Hamburg“ im Schanzenviertel ist ein offener Arbeitsplatz für Kreative, für Unternehmensstarter und „Freelancer“. Man kann dort Arbeitsflächen samt Technik mieten, sogar für halbe Tage. Tatsächlich gab es auf der großen Eventfläche eine Bar samt Barkeeper. Es gab nicht nur zur Auftaktandacht, sondern nach jedem Arbeitsschritt Livemusik mit Sopransaxofon und Klavier. Man konnte sich an Stehtischen treffen, sich im Hinterraum auf einer Sofaecke breitmachen oder auf die Straße gucken, wo sich die Leute von der Schanzenszene vor bunten besprühten Hausfassaden trafen. Alles nicht normal, aber inspirierend. Ein Graffiti auf der Straße verkündete in schrillen Buchstaben: „We believe in You!“ (Wir glauben an dich!)
„Ich glaube an dich! Das ist doch das Beste, was wir einem Menschen sagen können“, sagte Regine Laudage-Kleeberg. Die Autorin aus Münster hat mit dem Buch „Obdachlos katholisch“ ein Gefühl vieler Menschen beschrieben. Sie fühlen sich in der katholischen Kirche nicht mehr zuhause, betrachten sich als „vor die Tür gesetzt“, haben aber eine Sehnsucht nach dieser verlorenen Heimat.
Offen sein, angreifbar und unperfekt
„Es gibt kein Entweder-oder mehr“, sagte Laudage-Kleeberg, kein drinnen und draußen. Wie kann man auf die Heimatlosen der Kirche zugehen? Indem man sich selbst nicht verstellt und nichts vorspielt: „Die Menschen in den sozialen Netzwerken zeigen es uns: Sie sind oft angreifbar, unperfekt. Aber von ihnen geht oft eine Zuversicht aus.“
Eine weitere Impulsgeberin war Friederike Sittler aus Berlin: katholische Theologin, Journalistin, Vorsitzende des Journalistinnenbundes und Führungskraft beim Deutschlandradio. Und mit einer Frau verheiratet. Friederike Sittler erzählte von ihrem Lebenslauf. Wie sie aus dem konservativen Sauerland kam, beim Theologiestudium eine „unglaubliche Weite des Horizonts“ entdeckt hat, und nicht nur beruflich, sondern auch ehrenamtlich Karriere gemacht hat: Ihre Aktion „Laib und Seele“ verteilt in Berlin Lebensmittelspenden an 50 000 Bedürftige. 1600 freiwillige Helfer sind im Einsatz. „Wie kann eine so patente Frau noch Mitglied in der katholischen Kirche sein?“ Diese Frage hört Friederike Sittler immer mit, wenn sie über ihren Hintergrund spricht. „Trotzdem katholisch“ war das Stichwort ihres Barcamp-Referats. „Die katholische Kirche ist meine Heimat, da liegt meine Spiritualität, und ich lass mich daraus nicht vertreiben. Ich möchte nicht etwas Unbestimmtes irgendwo im freien Raum sein. Ich brauche diese Heimat.“
Das Barcamp hörte zu, nach jedem Impulsbeitrag formierten sich neue kleine Gruppen und diskutierten über das Gehörte – und die eigenen Positionen. Nach drei Runden kannte man schon viele der Teilnehmer. Karolin aus Hamburg, Sebastian aus Magdeburg, Michael aus Hildesheim, Katri aus Finnland. Aus Finnland und auch aus Hamburg, denn Katri Oldendorff ist finnische Seemannspastorin, außerdem Vorstandsmitglied und Ökologiebeauftragte der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen (ACK) in Hamburg. Zusammen mit Steffen Debus stellte sie das größte und schwierigste Zukunftsprojekt der Christen weltweit vor: gegen die Klimakatastrophe kämpfen und das Überleben der Menschheit sichern. „Das ist unsere größte und umfassendste Herausforderung“, sagte Steffen Debus. Nur: Die Kirchen hinken hinterher. So der eigene Eindruck. „Nicht nur die Großen – jeder kann etwas tun“, davon ist Katri Oldendorff überzeugt. „Auch in unseren Kirchen. Aber wenn ich mit Jugendlichen spreche, höre ich: Wir haben keine Ahnung, was unsere Kirche für die Umwelt tut.“ Außer, wenn die Ölpreise steigen und die Kirchen ihre Heizungen herunterdrehen. „Ja, plötzlich könnt ihr furchtbar sparen!“
Am zweiten Tag ging es ins Konkrete: In 14 „Sessions“ tauschten kleine Gruppen ihre Ideen zu bestimmten Handlungsfeldern aus. Die Absicht dabei: Möglichst viele Stimmen sollten gleichberechtigt zu Wort kommen. Schließlich waren sämtliche Teilnehmer Profis, die voll in der Praxis stehen und zum Teil langjährige Erfahrung in der Seelsorge haben.
„Unser Anliegen war, einen Rahmen für Austausch und Begegnung zu schaffen, der die Kompetenz aller einbindet und ermutigt, gute Fragen zu stellen“, sagte Jens Ehebrecht-Zumsande. Es ging nicht darum, mit dem Idealkonzept in der Tasche nach Hause zu fahren. „Die Antworten sind natürlich nicht unwichtig, aber das Barcamp-Format fördert eine gemeinsame Suche, weil es nicht die Expertinnen und Experten – und dahinter die anderen – gibt.“
Gelingt es, den gemeinsamen Glauben als gemeinsame Suche zu verstehen – nicht als fertige Lehre, die man anderen Menschen nur noch eintrichtern muss? Das ist für Jens Ehebrecht-Zumsande und seine Mitstreiter eine Zukunftsfrage der Kirche, ihrer Verkündigung und Evangelisierung. „Es gibt nicht ,die Wahrheit‘, sondern sie muss immer wieder in Beziehungskontexten gesucht und errungen werden.“
Von Andreas Hüser