Sozialethikerin Michelle Becka über Migration
"Menschen wie du und ich"
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Die Debatte über die Migration hat viele Ebenen: politische, gesellschaftliche, persönliche. Das macht sie so schwierig, auch für christliche Positionen. Für Michelle Becka, Sozialethikerin an der Universität Würzburg steht ein Kriterium jedoch ganz oben: Zuerst müsse man „daran erinnern, dass wir über Menschen sprechen“. Asylbewerber seien „Menschen wie du und ich, sie haben eine Würde und müssen entsprechend behandelt werden“.
Die Aufgabe von Christinnen und Christen sieht sie darin, Scheindebatten aufzudecken und mit den Ängsten der Bevölkerung umzugehen: Sie sollten deutlich machen, dass „Migration nicht die Ursache aller gesellschaftlichen Probleme ist“. Wer in der Migrationsdebatte eine christliche Haltung vertritt, sollte sachlich sein, nicht polarisieren und „sich nicht in die Empörungsspirale einbinden lassen“, fordert Becka. Diese Grundsätze haben für Becka Auswirkungen auf konkrete politische Entscheidungen. Drei Beispiele.
Die Debatte um die Arbeit
Wenn behauptet wird, dass Asylsuchende in der sozialen Hängematte lägen und man sie zur Arbeit verpflichten solle, müsse man das geltende Recht bedenken, sagt Becka. Denn ob Geflüchtete arbeiten dürfen, hängt unter anderem davon ab, wann sie eine Arbeitserlaubnis erhalten. Die Rede von einer Arbeitspflicht für Geflüchtete werde der Realität nicht gerecht: „Die Allermeisten würden gerne arbeiten. Aber die Bedingungen dafür müssen erst mal geschaffen beziehungsweise angepasst werden. Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen zusammenkommen, was ja auch teilweise geschieht.“
Dass die Bundesregierung Gesetzesänderungen plant, damit nicht abgelehnte Asylbewerber leichter in Arbeit gebracht werden können, ist für Becka richtig. Allerdings würden oft die übersehen, die nicht arbeiten können: „Wer mit einem Boot über das Mittelmeer kommt, andere ertrinken sieht oder mitbekommt, wie andere in einem Bürgerkrieg sterben, legt das nicht an der Grenze ab. Das macht Menschen kaputt.“
Die Debatte um das Geld
Becka ist nicht dagegen, Asylbewerber abzulehnen und abzuschieben. „Natürlich kann ich mir überlegen, was schön oder gut wäre, aber ich muss auch beachten, was möglich ist“, sagt sie. Für das Zusammenleben brauche man „Regeln und dazu gehört auch die Gestaltung von Einwanderung“, so die Sozialethikerin.
Mit der derzeitigen Anzahl von anerkannten, abgelehnten und noch nicht abgeschobenen Asylbewerbern sehen sich viele Kommunen jedoch alleingelassen. Oft halte der Bund die finanziellen Zusagen an die Kommunen nicht ein, kritisiert Becka. Sie fordert die Bundesregierung auf, neue Finanzierungen zu ermöglichen: „Wie lässt sich zum Beispiel durch eine andere Steuergesetzgebung – wir haben seit Jahren keine Vermögenssteuer mehr – der Etat vergrößern?“ Die Streichung von Geldleistungen, glaubt Becka, würde die Geflüchtetenzahlen nicht verringern. „Die Leute kommen nicht, weil sie hier Leistungen bekommen. Sie kommen, weil sie in Not sind.“
Die Debatte um die Asylreform
Viele der zuletzt diskutierten Vorschläge wie Obergrenzen für Geflüchtete hält Becka für rechtlich und organisatorisch nicht umsetzbar. Sie sieht das Hauptproblem bei der EU und darin, dass es nicht gelinge, „auf europäischer Ebene zu menschenwürdigen und gerechten Lösungen in der Migrationsfrage zu kommen“. Becka sagt: „Das Minimum für eine christliche beziehungsweise humane Migrations- und Integrationspolitik wäre, dass sie sich an die gegebenen Rechtsstandards hält und diese nicht immer weiter aushöhlt.“
Insbesondere kritisiert Becka die Pushbacks, also das oft gewaltsame Zurückstoßen Geflüchteter an den Grenzen der EU ohne Prüfung des Asylanspruchs. Aus christlicher Sicht, betont die Sozialethikerin, sei es eine Frage der Gerechtigkeit, dass bei allen Ankommenden geprüft wird, ob sie Anspruch auf Asyl haben.
Auch die Krisenverordnung, auf die sich die EU-Staaten geeinigt haben und die Teil der EU-Asylreform werden soll, sieht Becka kritisch. Dass Menschen, über deren Asylgesuch noch nicht entschieden wurde, länger unter haftähnlichen Bedingungen festgehalten werden, sei unverantwortlich: „Die Unterbringung Geflüchteter muss den Menschenwürdestandards entsprechen.“
Dass es zu einer gerechten Verteilung von Geflüchteten in der EU kommt, könnten auch die europäischen Bischöfe beeinflussen, „wenn die Kirche europaweit mit einer Stimme sprechen würde“, sagt Becka. Viele christliche Länder wie Ungarn oder Polen wollen keine Geflüchteten oder nur Geflüchtete aus der Ukraine aufnehmen. Die Theologin erinnert an das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, das zeigt, wer der Nächste eines Menschen ist: „Nicht die sind unsere Nächsten, die uns am ähnlichsten sind, sondern die, die uns brauchen.“