Häusliche Gewalt

Nicht länger nur Opfer sein

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Jede vierte Frau erlebt häusliche Gewalt durch ihren Partner. In Lingen haben betroffene Frauen ihre Erfahrungen in Bildern und Skulpturen verarbeitet. Zum Beispiel eine 45-jährige Emsländerin, die jahrelang von ihrem Ehemann gedemütigt wurde.


Stark wie ein Wal – so möchte sich eine Emsländerin fühlen, die nach vielen Jahren häuslicher Gewalt eine neue Zukunftsperspektive gefunden hat. Foto: Petra Diek-Münchow

Der Wal passt gerade so in die Hand von Sandra K. (Name geändert), geformt aus einer Modelliermasse. Warum sie sich für dieses Tier entschieden hat, weiß die 45-Jährige gar nicht so genau. „Das war einfach in mir“, sagt sie. Aber je mehr sie davon erzählt, was ihr Mann ihr angetan hat, desto deutlicher wird, dass die Wahl dieses Symbols kein Zufall ist: Stark ist ein Wal, er taucht ab und wieder auf, er schwimmt sich frei und findet seinen Weg. „Ich habe auch nicht aufgegeben“, sagt Sandra K. 

Die Emsländerin ist eine von neun Frauen, die bei einer Aktion des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF) und der Kunstschule in Lingen mitgemacht haben. Alle sind von häuslicher Gewalt betroffen, alle haben Hilfe im Lingener Frauen- und Kinderschutzhaus gesucht. Begleitet vom SkF-Team und Kunsttherapeutin Elke Schürhaus haben sie Bilder gemalt, Stelen entworfen und Skulpturen geformt, die von ihren Geschichten erzählen. Und von ihrem Weg daraus, denn sie wollen nicht länger nur als Opfer wahrgenommen werden. „Wir sehen hier ganz mutige Frauen vor uns“, sagt Monika Olthaus-Göbel vom SkF-Frauenschutzhaus in Lingen. „Sie haben sich aus einer Gewaltbeziehung gelöst und sagen Ja zu einem Leben ohne Gewalt.“ Und daher passt die Kunstaktion ihrer Ansicht nach gut in die Reihe der „MUT-MACH-FRAUEN“ (siehe auch „Zur Sache“).

„Wer hätte mir denn geglaubt?“

Heute kann Sandra K. bei diesen Worten mit einem Lächeln nicken. Aber lange hat sie sich nicht  mutig und stark gefühlt. Sondern eher wertlos, fehlerhaft, klein, schwach, voller Zweifel. Ihr Ehemann hat ihr viele Jahre dieses Gefühl gegeben – durch demütigende, verbale Angriffe auf ihre Seele, auf ihr Denken und Sein. „Ich habe mich zu Hause immer geduckt, damit ich nicht auffalle“, sagt sie. Solche psychische Gewalt ist heimtückisch, weil niemand die Verletzungen sofort sieht. „Das fiel ja nicht gleich auf. Ich hatte keine blauen Flecken oder so was“, sagt die Emsländerin. „Wer hätte mir denn geglaubt?“ 

Anfangs, sagt sie, war er „eigentlich ein ganz lieber Kerl“, der mit seiner eloquenten Art bei Freunden und Kollegen ankommt. „Er kann gut reden“, sagt sie und klingt dabei sehr bitter. Aber schnell merkt Sandra K., dass vieles davon nur Fassade ist und dass er zu Hause ein ganz anderes Gesicht zeigt. „Eiskalt war er da.“ Er kontrolliert alles, was sie sagt und tut. Verbessert ihre Sätze. Teilt ihr ein Taschengeld zu. Bestimmt, welche Gespräche sie mit wem und wo führt und sogar, was sie einkaufen darf. „Nach außen wirkten wir im Supermarkt vielleicht wie ein normales Paar, aber er hat ausgesucht, was im Einkaufswagen liegen durfte.“ 

Er gibt ihr das Gefühl, nichts wert zu sein, beleidigt und beschimpft sie in den eigenen vier Wänden – redet ihr ein, dass sie krank ist und in eine Psychiatrie gehört. „Ich war so voller Selbstzweifel, dass ich am Ende selbst geglaubt habe, ich bin nicht normal.“ Rückhalt findet sie nur bei ihren Eltern, denn „Freundinnen hatte ich kaum, das hat er nicht zugelassen. Eigentlich durfte ich nur zum Einkaufen und Arbeiten nach draußen.“ Sich dagegen zu wehren, dafür fehlt ihr die Kraft, dafür ist die Angst zu groß. 

Gewalt wird manchmal jahrelang erduldet

Monika Olthaus-Göbel und ihre Kolleginnen im Frauenschutzhaus haben solche Geschichten schon viel zu oft gehört. Acht Plätze hat die Einrichtung in Lingen und auch jetzt gerade sind wieder alle belegt. 35 Frauen mit 42 Kindern hatten in 2019 dort Hilfe gesucht, in diesem Jahr sind es bis jetzt schon 38 Frauen mit 45 Kindern. Häusliche Gewalt ist laut Olthaus-Göbel nach wie vor ein schwerwiegendes Problem in unserer Gesellschaft. Betroffene Frauen sprechen häufig nicht mit Freunden oder Familie über ihre ganze Leidensgeschichte. „Sie vertrauen sich niemandem an. Sie erdulden manchmal über Jahre die Gewalt.“ Der SkF bietet durch seine Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagoginnen sowie eine Fachberaterin für Psychotraumatologie diesen Frauen Information, Beratung, Unterstützung und Begleitung an, damit sie eine neue Perspektive finden. 

Bei Sandra K. ist die jahrelange Erniedrigung in eine Depression gemündet. Dass ihr Mann sie deswegen einweisen lassen will, ist das Schlüsselmoment, dass Sandra K. sich aus der Beziehung befreien kann. Sie vertraut sich einem Arzt an und der ermutigt sie, Hilfe zu suchen. Die Emsländerin bekommt einen Platz im Frauenschutzhaus, wo sie mehrere Monate wohnt. „Ohne euch hätte ich das nicht geschafft“, sagt sie und schaut zu Monika Olthaus-Göbel. 

Jetzt sieht sie einen neuen Weg vor sich – zieht bald in eine eigene Wohnung, startet mit einer neuen Arbeitsstelle, macht eine Therapie. „Ich habe nicht aufgegeben“, sagt sie mit fester Stimme. „Ich will das jetzt schaffen.“ Und diesen Mut sieht man nicht nur in ihrem kleinen Wal, sondern auch in ihrem Bild. Denn da zieht sich über einem dunklen Boden und einem kahlen Baum ein leuchtend bunter Regenbogen samt strahlender Sonne.

Petra Diek-Münchow

 

Zur Sache

Was Frauen mit häuslicher Gewalt erlebt und wo sie Hilfe gesucht haben: Darum geht es bei einem Podiumsgespräch am Donnerstag, 8. Oktober, um 19.30 Uhr in der Lingener Kreuzkirche (Universitätsplatz 1). Der Abend ist Teil der Veranstaltungsreihe „MUT-MACH-FRAUEN“, die die Frauenseelsorge des Bistums, die Katholische Erwachsenenbildung Emsland-Süd und das Dekanat Emsland-Süd organisiert haben.

Neben einem Erfahrungsbericht werden Bilder im Altarraum präsentiert, die betroffene Frauen – begleitet durch die Lingener Kunstschule – gemalt haben. Zudem geben Mitarbeiterinnen des Lingener Sozialdienstes Katholischer Frauen (SkF) Informationen über ihre Arbeit und beantworten Fragen. Um eine Anmeldung wird gebeten: Per E-Mail an holger.berentzen@bistum-osnabrueck.de oder per Telefon 05 91/96 49 72 21.