Gesunde Ablösung vom Elternhaus
Nicht ohne meine Eltern
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Abschied von den Eltern zu nehmen, bedeutet, sich von den elterlichen Erwartungen und Aufträgen zu emanzipieren und sein eigenes Leben zu leben. Eltern können ihre Kinder dabeiunterstützen, sich von ihnen zu lösen. Das verbessert die familiären Beziehungen.
Ein Ehepaar steht am Flughafen, um in die Urlaubsreise zu starten. Da ruft die Mutter des Mannes an und bringt ein häusliches Anliegen vor, weshalb sie den Sohn jetzt vor Ort braucht. Er lässt seine Frau stehen und eilt nach Hause zur Mutter. Die Reise mit seiner Frau fällt aus. Das ist ein krasses Beispiel, das die Diplom-Psychologin Sandra Konrad in ihrem Buch „Nicht ohne meine Eltern“ schildert, und was wie eine Episode aus einer schlechten Komödie wirkt, ist doch real. Ein Mann der sich von seiner Mutter nicht genügend gelöst hat, um sein eigenes Leben zu leben, riskiert lieber den Streit mit seiner Frau als den Konflikt mit seiner Mutter.
Abgesehen davon, dass es auch ihm selbst als Erwachsenen nicht guttut, sein Leben nach den Vorstellungen der Mutter auszurichten, schadet es vor allem seiner Ehe, wie Sandra Konrad feststellt. Sie schreibt: „Die Partner:innen dieser unabgelösten Kinder stehen nicht an erster Stelle, sondern konkurrieren mit ihren Schwiegereltern.“ Daraus resultiert häufig eine tiefe Abneigung zwischen Schwiegereltern und Schwiegerkindern. Denn wer möchte sich vom eigenen Mann dauerhaft wie das fünfte Rad am Wagen behandeln lassen?
Beziehungen verbessern
Ablösung mag zunächst schmerzhaft sein, verbessert dann aber die familiären Beziehungen, nicht nur zur eigenen neuen Kernfamilie – Frau und Kinder –, sondern auf Dauer auch zu den Eltern. Indem man offen mit ihnen spricht und sie in die Grenzen verweist, können alte Rollen abgelegt und neue Beziehungen unter Erwachsenen etabliert werden. Dann kommt man nicht aus Pflichtgefühl zum Kaffeetrinken, sondern weil man Lust dazu hat, die Eltern zu besuchen, vielleicht etwas zusammen zu unternehmen, denn auch der Vater fährt gerne Fahrrad oder die Mutter besucht mit Tochter und Enkelkind die Gartenbauausstellung im Ort.
Ablösung in Schritten
Im Normalfall erfolgt eine Ablösung vom Elternhaus in stetigen Schritten. Das Kind durchläuft viele Entwicklungsstufen und wird von seinen Eltern ermuntert. Es erkundet die Welt, kommt in die Kita, zur Schule, als Teenager hat es vielleicht ganz andere Interessen als die Eltern. Das Kind darf einen Beruf ergreifen, der seinen Neigungen entspricht, kann ohne schlechtes Gewissen ins Ausland gehen und muss nicht überlegen, wie die Freundin oder der Freund den Eltern wohl gefallen würden.
Kinder unterstützen
Ablösung ist ein lebenslanger Weg. Eltern können die Ablösung des Kindes unterstützen, indem sie es ziehen lassen, ohne Vorwürfe, ohne Neid. Vielleicht macht es mehr Schritte, als man sich selbst je getraut hat. Die Eltern müssen die Kränkung überwinden, nicht mehr gebraucht zu werden. Sie dürfen sich Sorgen machen, aber nicht die Kontrolle über das Leben des Kindes erlangen wollen. Vorwürfe, weil man selbst einsam ist, sind fehl am Platz.
Kindheitserfahrungen
Ob die Ablösung von den Eltern geklappt hat, zeigt sich unter anderem daran, dass die jungen Erwachsenen finanziell unabhängig sind, selbständige Entscheidungen treffen, keine ungelebten Träume der Eltern erfüllen müssen, sondern ihren eigenen Weg gehen können.
Andere hingegen, die von ihren Eltern nicht gut begleitet wurden, quälen sich ein Leben lang mit der Sehnsucht nach idealen Eltern, nach einem Vater, der sie akzeptiert, nach einer Mutter, die fürsorglich handelt und nicht selbst bemuttert werden will. Es ist wichtig, zu erkennen, dass diese Suche nach idealen Eltern nie erfolgreich sein wird. Es gilt, sich von dieser Illusion zu lösen und sich selbst zu „beeltern“.
In manchen Familien hatten sich die Rollen umgekehrt, das Kind war für die Versorgung der Eltern zuständig und fühlt sich heute noch verantwortlich für das Wohlergehen der Eltern, zum Beispiel, weil diese psychisch krank waren. Das musste vor anderen verborgen werden, so dass es diesen Menschen auch als Erwachsene schwerfällt, diese Bürde in ihrer Entwicklung zu sehen. Auch diejenigen, deren Eltern der Kriegskindergeneration angehören, sind oft mit einem Mangel an Verständnis groß geworden – ihre Eltern haben selbst nicht erfahren, wie es ist, getröstet zu werden.
Unangemessene Erwartungen
Aber auch in Familien, in denen alles glattzulaufen schien, können die Kinder unnötig an ihre Eltern gebunden sein, durch Erwartungen nach dem Motto: Es soll euch später finanziell gutgehen, aber nicht besser als uns („Überrundungsverbot“). „Haben Sie das Gefühl, dass Ihre Eltern sich nicht mit Ihnen oder für Sie freuen können?“, fragt die Autorin. Manchmal sollen die Kinder das ungelebte Leben der Eltern leben. Doch davon müssten die Kinder sich befreien, sie schulden ihren Eltern nichts.
Beziehungen zu anderen
Laut Konrad wiederholen Menschen, die von ihren Eltern enttäuscht sind, unbewusst die Muster ihrer Kindheit mit anderen, den Partnern oder Geschwistern. Hier sei es wichtig, die Verhaltensweisen zu erkennen und die kindlichen Anteile daran zu sehen. Warum bin ich so sauer? Wer enttäuscht mich da gerade? Meine Frau? Oder fühlt sich der Achtjährige in mir von seiner Mutter verraten?
Fazit
Wer Lust hat, seine Gefühle in puncto Eltern zu reflektieren und eigenen irrationalen Verhaltensweisen gegenüber Partnern, Geschwistern oder Kollegen auf den Grund zu gehen, kann mit diesem Buch einige Entdeckungen machen. Es bleibt nicht bei der Analyse des Ist-Zustands stehen, sondern gibt Übungen an die Hand, um sein Leben neu in die Hand zu nehmen, Groll zu überwinden und in die Zukunft zu gehen.
Sandra Konrad, Nicht ohne meine Eltern, Wie gesunde Ablösung all unsere Beziehungen verbessert, Piper, 24 Euro