Bildbetrachtung einer Kreuzigungsdarstellung
Ohnmächtig und doch hoffend
Horst Sakulowski: Passion, 2008, Öl auf Holz, 175,5 x 72 Zentimeter, Galerie Hebecker Foto: Förster & Borries GmbH / Jörg Haustein, Zwickau |
Man schaut. Kurz. Hin. Wegschauen. Das will man sofort. Anderswohin sehen. Die Augen verschließen. Kann man das aushalten? Da, der Mensch! Was muss er ertragen? Lebt er noch? Ist er schon tot? Vor Schmerz gewunden ist sein Körper. Verwundet. Gemartert. Durchstoßen. Seltsam verdreht. Verrenkt. Verformt. Sein Mund steht offen. Blut und Speichel fließen ihm auf die Brust. Die Augen sind zusammengekniffen. Noch sind sie leicht geöffnet. Ist ihr Blick schon blind geworden? Sehen sie noch etwas? Sieht noch jemand etwas? Oder hat sich die äußere Dunkelheit dieses Menschen auch schon innerlich bemächtigt? In welche Finsternis hat man diesen Menschen getaucht? Welches Licht leuchtet ihm noch?
Wer hat ihn so geschlagen?
Dornen fräsen sich in seine Stirn. Gefesselt ist er. Als würde man ihn in Teile zerreißen wollen. Als wollte man die Knochen aus seinen Gelenken herausreißen. Als wollte man ihm die Haut abziehen. Als könnte man nicht damit zufrieden sein, ihn kurz und schmerzlos zu töten. Hören wir seinen Schrei noch? Hat er überhaupt noch eine Stimme? Was könnte er überhaupt noch sagen? In welche Stille wurde er gestoßen? Was sagt ihm sein Schmerz noch?
Die Schergen sieht man nicht im Bild. Sie haben sich weggestohlen. Stehen sie nicht dort, wo der Betrachter steht? Stehen sie neben mir, vor mir, hinter mir? Bin ich es selbst, einer von ihnen etwa? Man kann sich vorstellen, welche Freude sie gehabt haben. Wie sich blinder Hass entladen hat. Da! Nimm das! Noch einen! Wir geben es Dir! Verdient hast Du es! Gelacht haben sie. Sich in die blutigen Hände geklatscht. Sich angefeuert. Mehr noch. Härter. Nur drauf! Er hat es nicht anders verdient.
Andere stehen mit sauberen Händen da, und genießen das Schauspiel
Andere stehen mit sauberen Händen da, ein wenig am Rande. Ihre Kleider bleiben rein. Unschuldig ist ihre Seele. Ihre Freude haben sie. Habe ich sie nicht auch? Zu sehen gibt’s da was! Das sieht man nicht aller Tage. Wie er sich aufbäumt. Wie er unter den Schlägen stöhnt. Wie er aufschreit. Dann jammert. Später keucht. Und noch später nur noch flach atmet, als hielte er die Luft an. Tiere würde man besser behandeln. Irgendwann werden sie nach Hause gehen. Es gibt nichts mehr zu sehen.
Währenddessen hängt er da. Geschunden. Ganz alleine. Ganz verlassen. Ganz bei sich. In einer Nacht, die nicht mehr dunkler werden kann. Die so finster leuchtet, dass man selbst das Kreuz kaum noch sieht. Die so schwarz bleibt, dass kein Stern am Himmel erstrahlt. So voller Schmerz ist er, dass er nichts mehr erinnern, nichts mehr erhoffen kann. Reine Gegenwart. Stillstand der Zeit. Christus, der da am Kreuz hängt, ohnmächtig, wortlos, gottlos. Wer hat Dich so geschlagen?
So leidet er. So stirbt er. Brutal ist sein Tod. Er spielt nichts. Alles real, kein fake. Jesus, der Menschensohn. Da schwindet sein Geist. Da wird sein Leib zum Leichnam. Da stirbt er nun. Dieser Mensch! Wahrlich, wer ist er? Kann man hinschauen, auf dieses Bild? Welche Abgründe tun ich auf? Was geschieht an uns? Wer, wo, was sind wir? Was zeigt sich uns in diesem Bild, dieser Ikone des Leidens? Was zeigst Du uns?
Mit ihm die unzähligen Leidenden und Sterbenden im Blick
Muss man auf ihn blicken? Ein erschütterndes Gebot, ein Ruf aus dem stillen, lichtlosen Schatten. Sein Leid zu sehen. Seinen Schmerz wahrzunehmen? Zu erkennen, was ihm angetan wurde? Ihn, den Leidenden mit seiner dornigen Krone zu erblicken? Und mit ihm die unzähligen anderen leidenden und sterbenden Menschen in den Blick zu nehmen? Wird man nicht selbst von ihm angeschaut, ob man nun hinsieht oder nicht? Hineingezogen? Angesprochen? Herausgefordert? Berührt? Betroffen?
Andächtig werden wir angesichts dieser Passionsikone. Wir denken an ihn, der in seinem Leiden allen Leidenden Würde gab. Für sie, für uns, für euch, für alle. Der in seinem Schmerz allem Schmerz eine Tiefe schenkte. Für die Menschen, die Welt, alle Kreatur. Und der hoffen lässt, dass dem Tod nicht das letzte Wort bleibt. Ist nicht die Schönheit dieser Passion – welch’ ein Gedanke! – ein stiller Hinweis darauf? Wird diese Ikone nicht durchsichtig auf Erlösung, nein, auf etwas wie Erlösung, nein, nein, auf etwas wie die trotzige, widerspenstige, ohnmächtige Hoffnung auf Erlösung hin? Müssten wir, um nicht zu verzweifeln, in unserer Andacht, unserem Schauen, unserer Betroffenheit, unserer Gleichgültigkeit und Schuld, nicht auf die Knie fallen? Wäre das ein Ort zum Hinschauen? Zum Hinaufschauen? Auch wenn es ganz kurz nur wäre?
Die Meditation ist erschienen in: „Horst Sakulowski „,Ecce Homo‘ Bilder von Menschen“, Sankt Ottilien 2021
Horst Sakulowski wurde 1943 in Saalfeld in Thüringen geboren. Von 1962 bis 1967 studierte er an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, wo unter anderem Bernhard Heisig sein Lehrer war. Er lebt und arbeitet seit 1967 als freischaffender Künstler in Weida. Sakulowski gehört zur zweiten Generation der Leipziger Schule. Mit ihr teilt er die Orientierung am Gegenständlichen und die Wertschätzung des Handwerklichen. Sein bildnerisches Werk umfasst neben Gemälden, Grafiken, Graphit- und Kugelschreiberzeichnungen auch Plastiken und Videoarbeiten. Bei aller Ernsthaftigkeit ist dem von einem christlichen Humanismus geprägten Künstler ein skurriler Humor eigen. Seine Werke waren in zahlreichen Ausstellungen in Deutschland und darüber hinaus unter anderem in Venedig, Melbourne, Tokio und in den USA zu sehen.
Holger Zaborowski ist seit 2020 Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie an der Theologischen Fakultät Erfurt. Der 1974 in Haldern geborene Zaborowski studierte Philosophie, katholische Theologie und klassische Philologie. Er promovierte in Oxford und Siegen in Philosophie. Vor seinem Wechsel nach Erfurt war er seit 2012 Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte der Philosophie und philosophische Ethik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar und seit 2017 Rektor dieser Hochschule.