Andacht "Klagezeit" in Leipzig

Raum für die eigene Not

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In Leipzig wird die alttestamentliche Tradition der Klagepsalmen aufgegriffen. Da Kirchen auch Orte öffentlicher Trauer sind, können Menschen dort während einer Andacht ihre Sorgen und Belastungen Gott klagen.

Die Polizeiseelsorgerin Pfarrerin Barbara Zeitler bringt auch die Gebete und Klagen aus dem Internet in den Kirchenraum und übergibt sie der Klagewand.    Foto: Vinzent Antal

 

„Von meinen Kommilitonen höre ich viel Verzweiflung. Dennoch bleibt mir und vielen anderen Studenten die Klage im Hals stecken. Wir flüstern sie uns gegenseitig zu, aber sie scheint nicht groß genug, um sie nach außen, geschweige denn zu Gott zu tragen.“ Mit dieser Einschätzung ist Anika Mélix vermutlich nicht allein. Während der „Klagezeit“, einem Gebetsangebot von evangelischer und katholischer Kirche in Leipzig und dem Institut für Praktische Theologie der Universität Leipzig, berichtete Mélix von ihren Erfahrungen und brachte ihre Klage, stellvertretend für andere Studenten, vor Gott.
Genau darum geht es bei der „Klagezeit“. Sie gibt Menschen die Möglichkeit, ihre Sorgen vor Gott zu bringen, sie können aussprechen, was sie plagt. Die Anregung für diese Form der Andacht kam vom Institut und wurde von den Kirchen schnell aufgegriffen, wie Propst Gregor Giele erklärt: „Binnen zehn Tagen ist das Projekt ‚Klagezeit‘ entstanden. Diese Präsenzandacht ist auch das Herzstück und wird jetzt virtuell immer mehr erweitert.“

Die Klage loswerden – sie an Gott übergeben
Ein auch über die Andacht hinaus sichtbares Element der „Klagezeit“ sind die Klagewände, die in der Leipziger Propstei und der evangelischen Peterskirche stehen. Während der Andacht können die Anwesenden ihre Klagen, Sorgen, Nöte auf Zettel schreiben und sie in die löchrigen Steine stecken und sie dadurch ein Stück weit loswerden. „Das ist der alttestamentliche Gedanke: Durch das Aussprechen, das Übergeben der Klage an Gott wird man ein Stück leichter“, erklärt Giele die wachsende Wand vor dem Altar. Zugleich betont er, dass dadurch die Situation nicht gelöst werde. Dennoch habe es eine andere Dimension, sein Leid Gott zu klagen, anstatt einem anderen Menschen. Denn dabei werde es oft ein Anklagen.
Auch Anika Mélix, die 2020 in Leipzig ihr Theologiestudium in Leipzig beendete, erweiterte die Klagewand nach ihrem Bericht um einen Stein. Dass sie und andere bei jeder Andacht ihre Sorgen ausführlich und öffentlich äußern, ist eine Grundidee für die „Klagezeit“. Diese Erfahrungen aus ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen und beruflichen Bereichen sollen stellvertretend verdeutlichen, welche Belastungen die jeweiligen Menschen besonders schwer treffen können.

Jeder für sich und als Teil des Ganzen
Die Rückmeldung der Gläubigen ist durchweg positiv. Die „Klagezeit“ scheint einen Nerv der Zeit zu treffen, ist Propst Giele überzeugt. Die derzeitige Situation, aber auch die ungewisse Zukunft belastete die Menschen. Die Krise betreffe jeden individuell, aber auch als Teil der Gemeinschaft. Das werde auch in der Andacht deutlich. Die Anwesenden klagen jeder persönlich, aber auch gemeinsam.
Auch Anika Mélix fasst ihr Gefühl zusammen, was vermutlich auch andere in ihrer Situation kennen: „Manchmal macht das Gefühl, nicht klagen zu dürfen, weil es einem vergleichsweise gut geht, es am allerschwersten. Deshalb bin ich dankbar für diese Klagezeit heute, die Raum schafft für die leise Klage der Studenten.“

Auf https://klagezeit-leipzig.de gibt es auch eine digitale Klagewand und die Erfahrungen zum Nachhören. Zudem werden die Andachten dort live übertragen.
Die „Klagezeit“ findet bis Karfreitag abwechselnd in der Leipziger Peterskirche (Schletterstraße 5) und der Propstei (Nonnenmühlgasse 2) statt. Wo die jeweilige Andacht stattfindet, erfahren Sie ebenfalls auf https://klagezeit-leipzig.de/.

Von Vinzent Antal