Bei der Bahnhofsmission Kassel-Wilhelmshöhe
Respekt und Freundlichkeit inklusive
Foto: Hans-Joachim Stoehr
Karin Stürznickel-Holst kommt die metallene Wendeltreppe herunter, die von den Räumen der Bahnhofsmission in die Bahnhofshalle führt. „Ich will unseren Caddy holen“, sagt die Leiterin der Bahnhofsmission in Kassel-Wilhelmshöhe und geht zur Ladestation. Beim Caddy handelt es sich um ein elektrisch betriebenes Fahrzeug zum Transport mit einer Sitzbank. „Wir sind die einzige Bahnhofsmission, die einen solchen Caddy besitzt“, erzählt die 64-jährige. Die Sozialpädagogin ist seit zwölf Jahren in der Leitung der Bahnhofsmission. Seit vergangenem Jahr leitet die Caritas-Mitarbeiterin die Bahnhofsmission alleine, davor wechselten sich die beiden Träger der Bahnhofsmission, das Diakonische Werk und der Caritasverband Nordhessen-Kassel, mit Leitung und Stellvertretung ab.
Viele Gäste kommen täglich zum Frühstück
Oben, vor dem Eingang zur Bahnhofsmission, haben sich kurz vor 9 Uhr bereits einige Männer und Frauen eingefunden. Die meisten kommen täglich. Drinnen, in der kleinen Küche, schmiert Moritz Bachmann Brötchen und Brote und belegt sie mit Wurst oder Käse und wahlweise Salat, Gurke, Tomate und Paprika. „Uns ist es wichtig, dass unsere Gäste etwas Gutes zu essen bekommen“, sagt Bachmann. „Dafür kaufen wir viel dazu, besonders Obst und Gemüse, aber auch Käse und Wurst.“ In mehreren Plastiksteigen sind Backwaren, die von einem Supermarkt gespendet wurden: „Was wir täglich an unsere Gäste austeilen können, hängt auch davon ab, wie viel gespendet wird.“ Zur Freude eines der älteren Gäste sind an diesem Tag auch Pizzastücke unter den Backwaren.
Um 9 Uhr füllt sich der Raum langsam mit Gästen. Einige setzen sich gleich an Tische, andere gehen zur Theke, wo Bachmann Kaffee einschenkt. Zuvor hat er einen Mann, der gebückt auf seinem Stuhl sitzt, respektvoll gefragt: „Was möchten Sie trinken? Kaffee?“ Auf das Nicken hin, fragt er nach „Wollen Sie den Kaffee mit Zucker? Mit Milch?“
Bachmann ist Student der Sozialforschung an der Universität Kassel. Sei zwei Jahren engagiert er sich ehrenamtlich bei der Bahnhofsmission. Angeregt dazu wurde er von einem Buch von Dieter Puhl, ehemaliger Leiter der Bahnhofsmission Berlin-Zoo, das von dessen Arbeit mit Obdachlosen dort handelt. Am Anfang stand für den 23-Jährigen vor zwei Jahren ein Praktikum. Weil es ihm so gut gefiel, hat er danach weiter mitgemacht. „Ich komme gut mit den Leuten zurecht. Manchmal bin ich überrascht, wer hier alles herkommt. Ich habe mich hier schon mit Leuten über Literatur unterhalten. Jemand hat mir mal die Lektüre von Franz Kafka empfohlen“ erklärt der Student. In der Bahnhofsmission spiegle sich die Wirklichkeit der Gesellschaft – von Menschen mit Drogen- und Alkoholproblemen bis hin zu Leuten, die von Altersarmut betroffen sind.
Bundesfreiwilligendienst in der Bahnhofsmission
Auch Jaqueline Zimmer, eine andere Ehrenamtliche im Team an diesem Morgen, war zuerst zu einem zweiwöchigen Schülerpraktikum in der Bahnhofsmission. Daraus wurde dann im Anschluss ein einjähriger Bundesfreiwilligendienst, der sich inzwischen dem Ende zuneigt. Ihr Resümee: „Ich kann es nur jedem empfehlen, so etwas zu machen“, sagt die 18-Jährige. Man erfahre auch von Schicksalsschlägen. Sie erinnert sich an eine junge Frau, deren Eltern Millionäre waren. „Sie rutschte ab ins Drogenmilieu. Das kann schnell gehen.“
Zu den ersten Gästen am Morgen zählen drei ältere Männer, die an einem der Tische Platz nehmen. Sie kommen nahezu täglich zum Frühstück. Warum? „Weil wir hier andere Leute treffen. Und wegen des Geldes. Denn für das Frühstück hier müssen wir nichts bezahlen.“ Sein Nebenmann stimmt zu. Auch bei ihm reicht die Rente nicht. „Ich war vor 30 Jahren einer von zwei Geschäftsführern für 30 Mitarbeiter. Aber nach 13 Jahren war Schluss.“ Wegen Hartz IV fehlen ihm jetzt die nötigen Beiträge für eine ausreichende Rente. „Sonst müsste ich auch nicht hier herkommen“, sagt er. Der dritte im Bund ist ein alteingesessener Kasseler. Auch er wurde finanziell gebeutelt, muss sehen, wie er über die Runden kommt.
Aber nicht nur Männer finden sich in den Räumen der Bahnhofsmission ein. Eine Frau sagt, sie habe vorzeitig in Rente gehen müssen wegen Krankheit. „Wie soll man mit 300 Euro Rente im Monat überleben?“, fragt sie. Und isst von ihrem Brötchen.
Als der Geräuschpegel im Raum so hoch wird, dass es schwer ist, sein Wort zu verstehen, interveniert Wolfgang Wollek – „wie Wolle mit k“. Der Rentner ist der dritte ehrenamtliche Helfer an diesem Morgen. „Etwas leiser, bitte“, ruft er.
Wollek steht an einer Ablage in der Nähe der Tür. Vor dem offenen Zugang ist ein Tisch aufgestellt. Dort gibt er Menschen, die kommen, einen Kaffee aus oder reicht etwas zu essen.
Wollek hat vor zweieinhalb Jahren einen Bericht über die Bahnhofsmission gelesen und sich daraufhin dort gemeldet. „Das war mitten in der Coronazeit. Einige Ehrenamtliche hatten aufgehört, aus Angst, sich anzustecken“, erinnert er sich.
Ein älterer Mann mit einer großen Plastiktüte tritt an den Tisch am Eingang. Er müsse ins Krankenhaus wegen seiner Beine. Wollek geht ins Büro, um Adressen von Krankenhäusern aufzuschreiben. Inzwischen ist eine ältere Frau im Raum aufgestanden und geht zu dem Mann. Sie rät ihm, in das nahe gelegene Rot-Kreuz-Krankenhaus zu gehen. Dazu gibt sie ihm die passende Wegbeschreibung.
Nach eineinhalb Stunden leert sich der Raum etwas. Für Stürznickel-Holst Zeit, „auf Achse“ zu gehen mit dem Caddy. An diesem Morgen gibt es keine angemeldeten Umsteigehilfen. „Das heißt aber nicht, dass es im Bahnhof keine Menschen gibt, die Hilfe bräuchten. Deshalb fahren wir, wenn die Zeit dazu da ist, mit dem Caddy über die Bahnsteige und schauen, ob jemand Unterstützung braucht“, sagt sie. Der vergleichsweise neue ICE-Bahnhof Wilhelmshöhe verfügt über weite Rampen von der Bahnhofshalle zu den Bahnsteigen. „Hier brauchen Menschen am ehesten Unterstützung, auf den Bahnsteigen der Regionalzüge eher weniger“, so Stürznickel-Holst.
Auf dem Rückweg die Rampe hinauf laufen langsam ein älterer Mann mit Trolley und ein Junge mit einem vollen Rucksack. Wie sich herausstellt, sind es Opa und Enkel. Sie kommen aus Grebenstein und steigen am Bahnhof Wilhelmshöhe um in Richtung Hannover. Von dem Angebot, sie mit dem Caddy zum Gleis zu fahren, ist der Junge gleich angetan. Sein Großvater, obgleich ihm das Laufen schwer fällt, zögert etwas, nimmt dann aber auf dem Beifahrersitz des Caddys Platz. Und ab geht es zum Gleis 4.
Zurück in den Räumen der Bahnhofsmission fällt Moritz Bachmann eine besondere Caddy-Tour mit drei älteren Frauen aus der Gegend von Berlin ein. „Sie waren alle um die 70 Jahre alt und gut gelaunt. Als sie mich mit dem Caddy sahen, sagten sie: ,Können Sie uns mal ein bisschen rumfahren – gegen eine Spende?‘ Und dabei winkte eine mit einem 20-Euro-Schein. Es stellte sich dann heraus, dass es sich bei der ,Spritztour‘ in Wirklichkeit um eine Umsteigehilfe handelte. Denn sie mussten zu einem Zug. An ihre Fröhlichkeit erinnere ich mich gern.“
Auch bei Orientierung eine gute Adresse
Nach der Caddy-Fahrt wartet auf Karin Stürznickel-Holst in den Räumen der Bahnhofsmission schon ein Mann mit weißem Bart. Beide gehen für ein Beratungsgespräch in den Nebenraum, der durch eine Schiebetür geschlossen werden kann. Inzwischen sitzt ein Afrikaner an einem der Tische. Er ist aus dem ostafrikanischen Somalia geflüchtet und lebt seit sieben Jahren in Kassel. „Meine Frau hat mich mit dem Kind verlassen, lebt jetzt in Dortmund“, erzählt er. Im Moment habe er keine Arbeit.
Eine Afrikanerin betritt mit einer Bahnmitarbeiterin die Bahnhofsmission. Die Frau müsse nach Bad Zwesten, erklärt die Bahnmitarbeiterin im Gespräch mit Stürznickel-Holst. Die Afrikanerin betont, sie habe Geld, um die Fahrkarte zu bezahlen.
Ihr Handy klingelt. Die gesetzliche Betreuerin der Frau ist in der Leitung. Im Gespräch mit ihr erfährt Stürznickel-Holst, dass die junge Frau nicht nach Bad Zwesten fahren soll, sondern nach Wabern. Moritz Bachmann sucht für die Frau online die passende Verbindung raus. Dann begleitet er sie in die Bahnhofshalle, um am Automaten ein Ticket zu kaufen. Und danach geht es zum Bahnsteig – ohne Caddy. Denn die Reisende hat weder viel Gepäck noch Probleme beim Gehen. Aber sie braucht Hilfe, sich zu orientieren. Und da ist die Bahnhofsmission eine gute Adresse.