Schmerz und Fassungslosigkeit
In der Vicelinkirche in Neumünster wurde am Sonntag in einem ökumenischen Gottesdienst der Opfer von Brokstedt gedacht. Unter den Trauernden waren kirchliche Würdenträger, Politiker, Bahnmitarbeiter und Einsatzkräfte.
In einem ökumenischen Gottesdienst in der evangelischen Vicelinkirche in Neumünster gedachten am Sonntagnachmittag mehrere Hundert Gläubige der sieben Menschen, die am Mittwoch, 25. Januar Opfer einer Messerattacke im Regionalzug von Kiel nach Hamburg wurden. Ein 33-jähriger staatenloser Palästinenser soll dabei auf Fahrgäste mit einem Messer eingestochen haben. Die 17-jährige Ann-Marie und ihr 19-jähriger Freund Danny waren dabei ums Leben gekommen; fünf weitere Menschen wurden bei dem Verbrechen teils schwer verletzt.
Es ist ein besonderer Gottesdienst. Nicht allein, weil das Ereignis von Brokstedt so viele Menschen tief anrührt. Viele Politiker sind gekommen: neben Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) sitzen Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) sowie Minister und Senatoren, Vertreter der Lokalpolitik und der Deutschen Bahn in den Kirchenbänken – sehr ernst, sehr wortkarg. Einsatzkräfte sind gekommen, mindestens ein Zeuge des Angriffs ist unter den Trauernden. Vor der Kirche stehen Kamerateams und Fotografen. Dutzende Polizisten sind vor Ort, die Sicherheitsmaßnahmen sind hoch.
„Wir denken an alle, die an Leib und Seele schwer verletzt wurden und bitten um ihre Genesung. Wir fühlen mit denen, die das Geschehen im Zug und in Brokstedt miterlebt haben und deren Seelen verwundet sind“, sagt Landesbischöfin Kristina Kühnbaum-Schmidt zu Beginn des Gottesdienstes.
Gothart Magaard, Bischof für den Sprengel Schleswig und Holstein, gelingt es, in seiner Predigt die Sprachlosigkeit in Worte zu fassen: „Das Vertrauen in eine sichere Alltagswelt hat Risse bekommen. Und deshalb ist es wichtig und gut, dass wir heute hier zusammen sind, um unseren Schock und unsere Trauer miteinander zu teilen. Um uns gegenseitig beizustehen und um Halt und Trost zu suchen“, sagt er. Und weiter: „Und doch bleiben Schmerz und Fassungslosigkeit. Die schreckliche Tat führt uns vor Augen, wie verletzlich das Leben ist. Mitten im Leben lebensgefährliche Gewalt und plötzlicher Tod.“ Es sei vielleicht das einzige, was helfe: „Unsere Fassungslosigkeit auszusprechen. Unsere Klage im Gebet vor Gott zu bringen“, so der Bischof.
Sieben Kerzen werden an der Osterkerze entzündet und vorne zum Altar gebracht. „Dieses Licht wollen wir heute Mittag in die Dunkelheit dieser Zeit und vieler Menschen hinein leuchten lassen. Jesus Christus ist in unserer Mitte, er ist das Licht“, sagt der Hamburger Erzbischof Stefan Heße. An die Ministranten gewandt, erklärt Heße, was es mit dem kleinen Kreuz auf sich hat, das am Vortragekreuz befestigt ist: „Ann-Marie war Ministrantin bei Euch und an dem großen Kreuz habt ihr ein kleines befestigt. Das Kreuz, das die Verstorbene in der Kirche immer wieder getragen hat.“ Gegen Ende spricht auch Şeyda Sarıçam von der Schura (Islamische Religionsgemeinschaft Schleswig-Holstein e.V.) noch eine Friedensbotschaft.
Zwei Personen stören den Gottesdienst und halten kleine Plakate hoch, auf denen etwas über ihre Lesart der Verantwortlichkeit steht. Sie werden von Kirchenbediensteten aus der Kirche geführt. Vor der Tür sind ebenfalls vereinzelt Plakate zu sehen. Dem mutmaßlichen Täter dürften die Glocken des Gedenkgottesdienstes übrigens in den Ohren geklungen haben, denn bis zum Neumünsteraner Gefängnis, wo der Verdächtigte einsitzt, sind es nur wenige Gehminuten.
VON MARCO HEINEN