Sehenden Auges in die Falle
Beim Gedenken an die Lübecker Märtyrer mahnen Redner Wachsamkeit gegenüber Feinden der Demokratie an. Erzbischof Heße spricht über die unerschrockene Haltung der Geistlichen gegenüber ihren Verfolgern.
Am Abend des 10. November passt auch das Wetter zum 75. Jahrestag der Ermordung der Lübecker Märtyrer. Das Kopfsteinpflaster glänzt feucht im Licht der Autoscheinwerfer, als sich einige Dutzend Menschen am Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus am Marstall auf der Parade in Lübeck versammeln. Bürgermeister Jan Lindenau (SPD) legt einen Kranz der Hansestadt nieder. Doch bevor er spricht, ergreift Rudolf Abold vom Arbeitskreis 10. November das Wort. „Unsere Demokratie, so wie mir scheint, ist bedroht, auch von gewählten Bürgern“, sagt er in Anspielung auf Rechtsextreme in der AfD und erinnert daran, dass Kaplan Johannes Prassek damals gewarnt wurde, nicht zu offen gegen die Nationalsozialisten zu predigen. Doch Kaplan Prassek kümmerte sich nicht. „Wer soll denn sonst die Wahrheit sagen, wenn es nicht wir Priester tun“, zitiert Abold ihn.
Auch Bürgermeister Lindenau beschreibt die Märtyrer als Vorbilder: „Wir brauchen auch heute viel mehr Menschen, die hinschauen, die nicht weggucken, die klar sich bekennen zur Demokratie, zu den Grundwerten unserer Gesellschaft“, sagt er. Und er mahnt, denen nicht zu viel Spielraum zu geben, die die demokratischen Grundrechte nur nutzen wollen, um andere Ideologien zu verbreiten – auch wenn ein demokratischer Staat selbst solche Menschen „aushalten“ müsse.
Keine ganze Stunde später in der Krypta von Herz Jesu: Johannes Thoemmes aus der eng mit Johannes Prassek verbundenen Familie Gunkel/Thoemmes verliest das Martyrologium. Es ist sehr still in der bis auf den letzten Platz gefüllten Kirche, wohin die Worte übertragen werden. Nur ab und zu hustet mal jemand.
Am Altar konzelebrieren dann nach guter Tradition jene Priester, die ihre Kaplansjahre in Lübeck verbrachten. Die Bibelstelle, in der die Pharisäer Jesus eine Falle stellen (Mt 22,15), steht im Mittelpunkt. Erzbischof Stefan Heße zeigt in seiner Predigt Parallelen zur Situation der Kapläne und des Pastors auf. Auch ihnen seien Fallen gestellt worden. Der Erzbischof berichtet von seinem Besuch in der Lübecker Lutherkirche wenige Tage zuvor. Der Anblick der Kanzel dort habe ihn „sehr bewegt“. Denn von dieser Kanzel hatte Pastor Karl Friedrich Stellbrink seine Predigt über die Bombenangriffe auf Lübeck zu Palmarum gehalten. Eine Predigt, die ihm zum Verhängnis werden sollte. „Ganz hinten an der Wand haben die Spitzel gesessen; in der Sakristei hat er schon darüber gesprochen“, so Heße. Auch Johannes Prassek habe gewusst, dass überall Spitzel saßen „und die Falle immer weiter zuschnappte“. Heße: „Das auszuhalten, nicht zu fliehen, sondern zu bleiben, es durchzutragen, das leben sie uns vor.“
Text u. Foto: Marco Heinen