Das Ethik-Eck: Darf ich mein Ehrenamt beenden?

Seit fast 25 Jahren singe ich nun im Kirchenchor ...

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Die Frage lautet diesmal: „Seit fast 25 Jahren singe ich nun im Kirchenchor. Aber es wird mir leider immer beschwerlicher. Außerdem hätte ich mal Lust auf was anderes. Darf ich mein Ehrenamt in der Gemeinde oder im Verein beenden, wenn es genug ist? Auch, wenn dann der Kirchenchor stirbt?“


Mit froher Leidenschaft

Sich überhaupt diese Frage zu stellen, das ehrt die Fragestellerin schon mal ungemein! Darin wird Verantwortungsgefühl und soziale Orientierung sichtbar. Das finde ich für gegenwärtige Zeiten und gesellschaftliche Trends so außergewöhnlich wie selten.

Stefan Herok
Stefan Herok, Diplomtheologe, Religionspädagoge und Pastoralreferent, arbeitet mit kleinem Rentnervertrag 
in der Seelsorge in Wiesbaden.

Bei zunehmend um sich greifender Egozentrik, wo man zuweilen den Eindruck hat, jemand erleide bereits einen Selbstwertverlust, weil er im Straßenverkehr die Vorfahrt anderer achten soll, da ist dieser verantwortungsvolle Blick auf das Gemeinwesen schon sehr besonders. Und natürlich sind gerade unsere kirchlichen Sozialformen wie Gemeinden, Gruppen und Verbände – hier das Beispiel Kirchenchor – in ihren Lebens- und Überlebensbedingungen heute absolut von der treuen Durchhaltekraft ihrer Mitglieder abhängig. Und ja, auch das stimmt, zuweilen stellen sich tatsächlich existentielle Bestandfragen, wenn nur noch ein paar wenige weitere Mitglieder aussteigen …
Und doch ist meine Antwort auf die gestellte Frage, gerade in Abwägung pastoral-seelsorglicher Verantwortung zwischen den einzelnen Menschen und unseren Gruppen glasklar: Natürlich darfst du dein Ehrenamt aufgeben, lieber ChorMensch! Am liebsten würde ich sogar sagen: Du musst das tun! Wenn wir nicht kirchlich solcherart „Du musst, du sollst, du darfst nicht – Imperative“ langezeit überstrapaziert hätten … 
In unserer Pastoral haben wir meist die Rechte und Bedürfnisse der einzelnen „Seele“ zu wenig geachtet und jegliche Individualorientierung der Verantwortung für „das Ganze“ untergeordnet, um nicht zu sagen, ihr „geopfert“. 
Das wurde dem Einzelnen nicht gerecht und mutete ihm (zu) viel zu. Wahrscheinlich auch mit einer Menge sozialem Druck, der an emotionale Erpressung grenzte. 
Ehrenamtliches Engagement soll auch diejenigen, die es ausüben, erfüllen und glücklich machen, es soll zumindest als positiv verbrachte Zeit und sinnvoll eingesetzte Kraft erfahren werden. Wo solche „win-win-Rechnung“ nicht (mehr) aufgeht, ist Veränderung geboten. Und wer hier auf sich selbst schaut, ist noch längst kein „berechnender Charakter“. Immer wieder ist es nötig, in der schönen Nächstenliebeformel des jüdisch-christlichen Ethos (zum Beispiel Markus 12,29) das „wie dich selbst“ zu betonen.
Noch etwas ist mir pastoral im Blick auf das Ganze wichtig: Ich erlebe viele unserer christ-katholischen Aktionen und Initiativen als ausstrahlungsarm und darum kaum einladend und inspirierend. Warum? Weil man ihnen oft anmerkt, dass hier Leute „auf dem letzten Loch pfeifen“, dass sie offensichtlich auf „zu vielen Hochzeiten tanzen“ und mehr aus einmal übernommener Verantwortung heraus handeln als aus froher Leidenschaft und gegenwärtig bewegtem Herzen. Es wird unseren ehrenamtlichen Initiativen nicht schaden, wenn wir unsere Kräfte bündeln und insgesamt weniger machen. Das dann aber mit voller Kraft und froher Leidenschaft. Der dadurch überspringende Funke wird über den „Tod“ mancher kirchlichen Unternehmung hinwegtrösten …

 

Es darf zu Ende gehen


Beeindruckend: fast 25 Jahre, fast ein Vierteljahrhundert, so viel Treue und Zuverlässigkeit!
Hoffentlich waren es gute Erfahrungen, bewegende Gottesdienste, gelungene Konzerte, und hoffentlich auch freundliche Leute, ein gutes Miteinander, vielleicht der eine oder andere Ausflug, vielleicht sogar Freundschaften und gegenseitige Unterstützung. 
 

Ruth Bornhofen-Wentzel
war Leiterin der Ehe- und Sexualberatung im Haus der Volksarbeit in Frankfurt.

All das kann zu Ende gehen. Und es darf natürlich zu Ende gehen. 
Erst recht, wenn es beschwerlich wird, wenn die Stimme vielleicht nicht mehr so will, wenn die Gesundheit nicht mehr mitmacht.
Dankbarkeit ist angezeigt für eine gute Zeit, kein schlechtes Gewissen. Und ein Kirchenchor stirbt nicht, wenn eine einzelner geht oder eine Sängerin nicht mehr gut bei Stimme ist, sondern aus vielen anderen Gründen. Weil keine neuen oder jüngeren Sängerinnen und Sänger mehr dazukamen, weil die Stimmung untereinander schlechter wurde, die Gemeinschaft auseinanderdriftet. Vielleicht weil es die Gemeinde so nicht mehr gibt, in der der Chor heimisch war. Weil sich in 25 Jahren eben nicht nur in einem Kirchenchor vieles verändern kann. Das sind jahrelange Entwicklungen –  nicht die Sache eines Einzelnen.
Aber gerade wo Menschen besonders engagiert sind und es um wertvolle Erfahrungen geht, gerade, weil der Verlust schmerzt, kann es schwierig werden. Da geschieht es leider manchmal, dass einem einzelnen da eine falsche Verantwortung aufgebürdet wird: Wenn Du auch noch gehst, dann bricht hier alles zusammen! Du lässt uns im Stich – das darfst Du nicht. 
Und manchmal ist es auch ein bisschen Selbstüberschätzung: Ich bin entscheidend, es liegt an mir … dann darf ich nicht gehen.
Viel besser ist es, wenn man sich und anderen erlaubt, zu merken: Es war lange gut, und jetzt ist es nicht mehr so.
Dann können wir das Gute schätzen und in der Erinnerung behalten, und wir dürfen es gleichzeitig vorbei sein lassen.
Wunderbar finde ich den Satz: Ich hätte mal Lust auf was anderes. Sofort wird der Ton anders, und es klingt nach Lebensfreude, nach neuem Schwung, vielleicht genau wie der, der damals in den Kirchenchor geführt hat. 
Vielleicht findet dieser Schwung neue Aufgaben und andere sympathische Leute. Und irgendwas geht weiter, nur anders. 
Das schlechte Gewissen und das „ich muss halt bleiben und aushalten“ machen alles bleischwer, das „es darf auch was zu Ende gehen und was Neues beginnen“ machen federleicht. Und wer weiß: Vielleicht finden sich in der Pfarrei sogar wieder andere Menschen zusammen für ein neues Musikprojekt.

 

Aus freien Stücken


Bleibt das Ehrenamt immer eine Frage der Ehre? Oder wird es wie von selbst irgendwann auch zur Pflicht? Klingt nach Entweder-Oder. Ist aber vielmehr ein Sowohl-als-Auch. 
 

Thomas Laubach (Weißer) ist Professor für Theologische Ethik an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg und lebt in der Nähe von Mainz.

Denn wenn ich ein Ehrenamt übernehme, dann gehe ich immer auch Verpflichtungen ein. Ich singe im Chor – dann rechnen die Mitsängerinnen und Mitsänger damit, dass ich zu Proben und Auftritten komme. Gebe ich einen Sprachkurs für Flüchtlinge, dann erwarten diese, dass ich sie regelmäßig unterrichte. Ehrenamt ist also viel mehr als beliebiges Engagement. Es setzt auf Zuverlässigkeit. Auf Verpflichtung. 
Aber auch Verpflichtungen können enden. Das Konzert war ein Erfolg, jemand hat eine Sprache gelernt – und mein Engagement hat sich damit erst einmal erledigt. 
Verpflichtung und Zwang sind damit zu unterscheiden. Wenn ich ein Ehrenamt aus freien Stücken übernehme, dann kann ich es auch aus freien Stücken beenden. Vor allem dann, wenn gravierende Gründe vorliegen. 
Wenn das Singen im Kirchenchor immer beschwerlicher wird, wenn ein Ehrenamt an den eigenen Kräften zehrt: Ist es da nicht sinnvoll, etwas kürzer zu treten? Vor allem: Was haben die anderen davon, wenn ich mich nur noch so durchschleppe, nicht mehr mit ganzer Kraft dabei bin?
Richtiges Handeln hat in der Ethik immer damit zu tun, dass ich die Alternativen sichte. 
Dass ich Handlungsmöglichkeiten entdecke und abwäge. Damit weitet sich auch ein vermeintliches Entweder-oder-Problem. In unserem Fall könnte etwa ein Gespräch mit dem Chor anstehen. Vielleicht haben ja andere Mitglieder ähnliche Gefühle. Sind froh, dass jemand offen über die Situation des Kirchenchors und seine eigenen Emotionen spricht. Dann ließe sich auch verabreden, dass zum Beispiel das nächste Konzert ein gemeinsamer Abschluss ist. 
Eine andere Möglichkeit wäre es, passives Mitglied zu werden. Und vielleicht gibt es noch mehr Alternativen. Erst wenn die alle auf dem Tisch liegen, lässt sich eine gute Entscheidung treffen. Eine Entscheidung, mit der ich leben kann. Und auch alle anderen, mit denen ich mich verbunden fühle.