Monat der Weltmission
"Sie haben Ziele und Träume wie wir"
Zum Monat der Weltmission schaut die Kirche auf Kenia. Dirk Bingener, Präsident von missio Aachen, berichtet, wie die Menschen im Slum der Hauptstadt Nairobi leben, wie die Kirche ihnen hilft und was wir von ihnen lernen können.
Herr Bingener, Thema des Weltmissionsmonats ist die Großstadtpastoral. Wie muss man sich die in den chaotischen Slums von Nairobi konkret vorstellen?
Im Armutsviertel Kibera leben bis zu einer halben Million Menschen. Ohne Frage ist die Situation dort schwierig; aber zugleich ist dieses Viertel Heimat für diese Menschen. Die Leute dort sind wahre Improvisationskünstlerinnen und -künstler und machen eine Menge aus der schwierigen Situation. Sie haben Träume und Ziele wie wir. Sie gestalten ihre Lebenswelt mit viel Fantasie und sind stolz auf das Erreichte. Die Gemeinden sind inmitten dieser Situation.
Die Großstadtpastoral in Nairobi setzt auf ein Netz der nachbarschaftlichen Hilfe. Wie sieht das aus?
Unser Anliegen von missio ist es, die Seelsorge vor Ort zu unterstützten. Wichtige Menschen, die dieses Netz unterstützen, sind die Seelsorgerinnen und Seelsorger, die unmittelbar mit den Menschen im Slum zusammenleben. Einer der Protagonisten unserer diesjährigen Kampagne ist zum Beispiel der Missionar Firmin Koffi. Er hat ein Ausbildungshaus mitten ins Viertel gebaut. Dort absolviert der Ordensnachwuchs einen Teil der Ausbildung. Sie leben mit den Menschen, besuchen sie, hören zu, koordinieren Selbsthilfe.
Wer gehört noch zu diesem Netz?
Dazu gehören Christinnen und Christen aus der Umgebung, sie treffen sich nach dem Sonntagsgottesdienst, beten und schauen, wer in der Nachbarschaft Hilfe braucht. Das sind sehr praktische Dinge wie die Suche nach einer Tagesmutter, Einkaufen für andere, die Sorge um einsame Menschen. Es sind kleine christliche Gemeinschaften, denen manchmal auch Menschen aus wohlhabenderen Gegenden angehören.
Was sind die größten Herausforderungen der Seelsorge im Slum?
Diese Wohngebiete wachsen sehr schnell. Viele Menschen zieht es auf der Suche nach einem besseren Leben in die Stadt. Menschen fliehen beispielsweise aus dem Osten Kenias aufgrund der Dürre und der damit einhergehenden Hungerkatastrophe. Alles auch eine Folge des Klimawandels. Für junge Menschen sind Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Drogenmissbrauch große Probleme. Der Zulauf von vielen Menschen in die ohnehin schon schwierigen Verhältnisse ist eine große Herausforderung.
Zum Weltmissionsmonat stellen Sie unter anderen Schwester Mary Wambui vor, die mitten im größten Slum Nairobis unter den Menschen lebt. Was bedeutet das den Slumbewohnern?
Schwester Mary Wambui lebt nicht nur unter den Armen, sie ist selber arm. Sie hat die Armut bewusst gewählt, um den Menschen nahe zu sein. Ein Beispiel: Sie hat – wie alle anderen Viertelsbewohner – keine Holzkohle auf Vorrat, um schnell etwas kochen zu können, wenn unvorhergesehen Gäste kommen. Sie könnte das wahrscheinlich organisieren, verzichtet aber aus Solidarität darauf, weil das die anderen auch nicht haben. Sie will keinen Sonderstatus. Damit hat sie natürlich eine sehr hohe Glaubwürdigkeit.
Wie hilft Schwester Mary?
Sie ermutigt – besonders alleinerziehende Mütter – durch Mikrokredite, unternehmerisch aktiv zu werden. Damit können die Frauen ihr Leben selbst in die Hand nehmen und so ihre Situation verbessern. Die christliche Überzeugung, dass jeder Mensch eine Chance bekommen muss, seine Talente zu entfalten, wird hier praktisch unterstützt. Soziales und Pastorales finden zusammen.
Elend und Armut sind groß in den Slums. Dennoch sind viele Menschen dort optimistisch, lebensfroh und meistern die Herausforderungen ihres Alltags. Woraus schöpfen diese Menschen ihre Zuversicht?
Ich glaube, es ist vor allem dieses selbstorganisierte Netzwerk und die Erfahrung von Gemeinschaft, die Zuversicht gibt. Und es gibt die Möglichkeit, das eigene Leben entscheidend zu verändern. Es gibt immer wieder Bewohner, die ein Universitätsstudium absolvieren und für sich und die eigenen Kinder eine bessere Zukunft sehen. Viele orientieren sich an diesen Vorbildern. Ich glaube, die Gemeinschaft, diese Solidarität und diese Hoffnung auf Veränderung machen Menschen glücklich und auch stolz. Zugleich können wir sehen, dass Wohlstand eben alleine auch nicht glücklich macht. Menschliche Wärme, ein Miteinander und die Solidarität untereinander sind entscheidend. Dabei will ich die Situation in diesem Armutsviertel nicht idealisieren. Denn natürlich ist vieles schwierig, beispielsweise wenn sie dort ernsthaft erkranken.
Können wir aus dieser Vernetzung unter Menschen in der Gemeinde – auch mit Blick auf die Strukturreformen und Zusammenlegung von Pfarreien – etwas für uns in Deutschland lernen?
Man kann die Situation zwar nie eins und eins übertragen. Aber aus dem Ansatz, als Kirche die Sorgen der Menschen im unmittelbaren Umfeld des Dorfes oder Stadtviertels zu sehen und in Netzwerken daran zu arbeiten, können wir natürlich viel lernen. In Deutschland gibt es beispielsweise das große Thema Einsamkeit. Hier können sich Gemeinden engagieren. Als Kaplan in Köln habe ich durch Pfarrer Franz Meurer in Köln-Vingst erfahren, was geschieht, wenn eine Gemeinde das eigene Viertel im Blick hat. Dann hört sie auf, um sich selbst zu kreisen, und blickt auf die konkreten Nöte der Menschen. Dabei spürt man als Gemeinde Selbstwirksamkeit und erkennt, wofür Christinnen und Christen da sind: nämlich, das Viertel mitzugestalten und den Menschen in seinen Fragestellungen zu begleiten. Es geht darum, Perspektiven zu öffnen, weil Gott ja eben Zukunft und Hoffnung geben will. Das gilt – bei allen Unterschieden – in Köln genauso wie in Kenia.
Schon kleine Hilfsangebote und Beiträge können in einem Netzwerk von Unterstützern viel bewirken. Davon war auch die im Mai seliggesprochene Pauline Jaricot überzeugt, die als Mutter der Missionswerke gilt. In diesem Weltmissionsmonat laden Sie Gemeinden ein, diese wenig bekannte Persönlichkeit näher kennenzulernen. Warum?
Die selige Pauline hat im 19. Jahrhundert unglaublich viele Menschen zusammengebracht, um eine Münze zu spenden und durch ein Gesetz des Rosenkranzes Menschen im Gebet zu stärken. Durch ihre Art und ihr Organisationstalent hat sie also viele Menschen animiert, Gutes zu tun. Manchmal braucht es ja nur einen Impuls, damit sich Menschen begeistern lassen. Deshalb erinnern wir auch heute an sie, denn ihr Ansatz, dass jede und jeder sich engagieren kann und das daraus die Kraft entsteht, die Welt zu verändern, der ist heute so aktuell wie damals.
Interview: Angelika Prauß