Soll es Arme geben?
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In einem Seminar in den 1980er Jahren diskutieren Studenten über Mutter Teresa. Die Ordensfrau aus Kalkutta ist allen ein Begriff. Wie könnte es anders sein? Eine Frau macht sich auf und geht zu den „Ärmsten der Armen“. Sie widmet ihr Leben den Leprakranken, die wie Abfall in den Straßen liegen. Und oft kann sie nichts weiter geben als ihnen ein Lächeln und einen Tod in Würde.
Tut Teresa von Kalkutta das Richtige? Oder ist sie auf einem falschen Weg? Die Studenten sind sich nicht einig. Mutter Teresa müsste politisch werden, fordern einige. Sie müsste die Verhältnisse bekämpfen, unter denen die Armut wächst. „Gesellschaftsveränderung“ ist ein großes Wort in den Universitätsräumen der Achtziger, auch in der Theologie.
Armut, erklärt ein Student, ist das Problem der Gesellschaftsordnung. In der Gesellschaft der Zukunft werde es keine Armut und keine Armen mehr geben. Eine Studentin widerspricht: „Für Mutter Teresa sind die Armen ein Geschenk. Sie sagt, in jedem Armen begegnet uns Jesus Christus.“
Man kann sagen: Hier haben zwei Menschen aneinander vorbeigeredet. Aber es trafen in diesem Wortwechsel auch zwei Ansätze des Handelns aufeinander. Auf der einen Seite der Impuls der Nächstenliebe, der sich dem Einzelnen und Nächsten zuwendet und das Nächstliegende tut. Auf der anderen Seite der Wille zu politischer Veränderung. Beide Ansätze wollen das Gute, aber beide treten oft als Feinde auf. Und beide haben recht. Es ist richtig und geboten, Armut zu verhindern und ihre Ursachen zu bekämpfen. Es ist ebenso geboten, die Armen zu versorgen und diesen Auftrag als Geschenk Gottes anzunehmen.
„Kannst du nicht 100 speisen, speise einen“
„Arme habt ihr jederzeit bei euch und könnt ihnen Gutes tun“, sagt Jesus in einem Streitgespräch. Wenn man in dieser Szene – es handelt sich um die „Salbung in Betanien“ – dabei gewesen wäre, hätte man nachfragen können: Ist nicht das Reich Gottes, das Jesus verkündet hat, eben diese Welt, in der es keine Armut mehr gibt? Und Jesus war doch überzeugt davon: Das Reich Gottes steht nahe bevor!
Eine bessere Zukunft erhoffen – in der Gegenwart handeln. Politisch für eine Verringerung der Armut arbeiten und dem Armen auf der Straße ins Gesicht sehen und ihm helfen. Beides muss gemacht werden. Aber nicht jeder muss beides machen. Mutter Teresa stand für die direkte Hilfe im Hier und Jetzt. „Wenn du nicht hundert speisen kannst, dann speise einen“, hat sie gesagt. Vielleicht, so darf man weiterdenken, finden sich noch 99 andere, die das Gleiche tun. Man muss nicht die Armut der Armen teilen, wie die Ordensfrauen mit dem weiß-blau gestreiften Schleier es in der ganzen Welt tun. Aber man kann von seinem Überfluss etwas abgeben.
„Das einzige, was die Armut beseitigen kann, ist miteinander zu teilen.“ Auch dieses Mutter-Teresa-Zitat ist den politisch orientierten Menschen zu einfach. Aber heute stellt sich immer mehr heraus: Es stimmt. Weil die Menschen nicht teilen, weil die einen sich bedienen und die anderen leer ausgehen, wird es auf absehbare Zeit noch Armut geben.