Streiten will gelernt sein

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Die Krisenstimmung in Kirche, Politik, Gesellschaft und Gesundheit lässt den privaten Raum nicht unberührt. Wie geht man mit Krisen um? Praktische Antworten auf diese Frage gab es in der Martins-Soirée in Rostock.


Sunna Hollmann (Leiterin EFL Rostock) dankt Claudia und Gerold Wehde, Referenten der Martinssoiree in der Don-Bosco-Schule | Foto: Screenshot

VON ANDREAS HÜSER

Wo Menschen zusammenleben, gibt es Streit. Zündstoff dafür findet sich in jeder menschlichen Beziehung. Die Gegenwart aber ist eine Zeit, in der Streit besonders gut gedeiht. Klimawandel, Krieg in der Ukraine, Coronakrise – die Ansichten über die Ursachen und die Wirklichkeit hinter diesen Krisen kann Menschen entzweien, auch wenn sie nicht in das Privatleben direkt eingreifen. „Auch wenn es uns gut geht. Eine Krise in der Welt kann eine persönliche Krise auslösen“, sagt Gerold Wehde. Und seine Frau Claudia Wehde sagt zu der Häufung von Krisen: „In dieser Vehemenz ist das für unsere Generation neu.“

Claudia und Gerold Wehde sind Einzel-, Paar- und Familienberater, sie leiten die „Integralis- Akademie“ in Bremen. Und der Förderverein der Ehe-, Familien- und Lebensberatung im Erzbistum hatte sie als Gäste der traditionellen Martins-Soirée in die Rostocker Don-Bosco-Schule eingeladen. Was ist passiert, wenn einander nahestehende Menschen plötzlich in zwei verschiedenen „Wahrheiten“ leben? Es ist gar nichts Ungewöhnliches passiert. „Wir Menschen brauchen Wahrheit, damit wir nicht aus der Wirklichkeit herausfallen“, erläutert Gerold Wehde. „Suche nach Wahrheit bedeutet: Ich versuche, meine Welt stabil zu halten.“ So weit, so gut. „Schwierig wird es, wenn meine Wahrheit auch für dich die Wahrheit sein soll“, sagt Claudia Wehde. Was objektiv geschieht, das haben die Beteiligten zwar gemeinsam. Aber sie erleben das Geschehen unterschiedlich und bringen dazu noch eigene Erfahrungen und persönliche Vorgeschichten zurück.

Beispiel: Ein Mann beschwert sich, dass er für seine Frau und deren Tochter ein Fremdkörper ist, nicht richtig dazugehört. Die Frau sagt: Du hast schon deinen Platz bei uns. Du musst dich nur einbringen.“

Jeder Mensch braucht seine Wahrheit

Wo verschiedene Wahrnehmungen und „Wahrheiten“ aufeinandertreffen, kommt es oft zu Krisen. Also zu einem Punkt der größtmöglichen Spannung, an dem es nicht schlimmer werden kann und es kein Zurück gibt. Gerold Wehde: „Sie werden die Krise nicht los, wenn Sie zurück wollen und alles so haben wollen, wie es früher war. Das wäre nett, aber es ist nicht erreichbar.“

Wenn es richtig knallt, dann wirkt die Krise unmittelbar und körperlich. „Krise ist Stress im Kopf. Sauerstoffmangel im Frontallappen des Hirns. Wir haben nicht mehr den vollen Zugriff auf unsere Ressoursen, das Handlungsspektrum ist eingeschränkt.“

Wie kommt man da raus? Einige „Handwerkszeuge“ hatten Claudia und Gerold Wehde mitgebracht. Rezepte, mit denen man die Eskalation vermeidet: „Denn jede Eskalation bringt Verletzungen.“ Das erste Mittel heißt: „Stopp!“ „Wir können hier nicht weitermachen. Wir müssen für den Moment auseinandergehen.“ Wichtig: Dieses „Stopp“ muss vereinbart sein. Und „Auseinandergehen“ heißt zu sagen: „Ich gehe für eine halbe Stunde raus und komme um sieben Uhr wieder.“ Zweites Mittel: „Atem holen“. Claudia Wehde: „Gönnen Sie sich einen tiefen Atemzug. Das bringt sie zwar nicht von 100 auf Null, aber vielleicht auf 80 oder 60.“ Beim Durchatmen kommt nämlich das System wieder in Gang, das Hirn kann auf seine Ressourcen zurückgreifen.

Das dritte Mittel ist etwas schwieriger: „Sprechen“. „Miteinander sprechen heißt auch: Ich möchte auch Dich hören. Was ist hier dein Anliegen, was ist mein Anliegen?“ Das geht, indem man sich gegenseitig Redezeit gibt. Jeder spricht acht Minuten lang. Eine anpruchsvolle Sache. Über seine inneren Bedürfnisse zu sprechen, will gelernt sein. „Aber manche Menschen haben auch nicht gelernt, ihre Bedürfnisse überhaupt wahrzunehmen“, sagt die Beraterin. „Was fühle ich jetzt eigentlich?“

Das letzte Mittel: Hilfe holen. „Denn es gibt in Familie und Partnerschaft Krisen, die die Partner überfordern können.“

Hilfe bieten Fachleute, unter anderem in den „Ehe-, Familienund Lebensberatungsstellen“ im Erzbistum Hamburg. Der Förderverein unterstützt diese Arbeit – unter anderem durch die jährliche „Martins-Soirée“. Der entspannte Abend mit Musik, Vortrag und Gespräch bringt nicht nur interessante Erkenntnisse. Er hilft auch, nämlich durch Spenden. In diesem Jahr werde die Einnahmen benutzt, um Paaren ein gemeinsames Wochenende zu ermöglichen – „Zeit für sich“. Und wer den Vortragsabend verpasst hat, kann ihn sich auf YouTube im Internet ansehen. Stichwort: „Martinssoirée 2022 „Familien und Liebesbeziehungen in Krisenzeiten.“

Förderverein der Ehe-, Familien- und Lebensberatung im Erzbistum Hamburg e.V., Strandstraße 92, 18055 Rostock, Tel. 0381/4904085, E-Mail: efl.foerderverein@ web. de, Spendenkonto: IBAN DE54130500000201064570 Verw.-Zweck: „Förderverein“