Missbrauch in der Evangelischen Kirche
Tausende Betroffene
Foto: kna/Daniel Pilar
Der Horror begann im Fahrradkeller. Dort wurde Detlev Zander, Bewohner eines evangelischen Kinderheims, in den 60er Jahren das erste Mal von einem Betreuer vergewaltigt. Der Missbrauch wiederholte sich über Jahre etliche Male. Unter den psychischen Folgen leidet der inzwischen Anfang-60-Jährige heute noch.
Dass Zander bei weitem nicht der Einzige ist, dem es so erging, zeigt eine neue Studie, die Forscher in der vergangenen Woche in Hannover veröffentlichten. In kirchlichen Akten fanden sie Hinweise auf 2225 Menschen, die zwischen 1946 und 2020 im Bereich der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Diakonie sexualisierte Gewalt erfahren haben. Bei der ersten Tat waren sie im Durchschnitt elf Jahre alt. Verantwortlich für ihr Leid sollen 1259 Pfarrer und weitere, meist männliche Kirchenmitarbeiter oder -mitglieder sein.
Weil den Forschern von 19 der 20 deutschen Landeskirchen nur ein Teil der Akten zur Verfügung gestellt wurde, gehen sie von weit höheren tatsächlichen Zahlen aus. Mit Hilfe einer Hochrechnung kommen sie auf 9355 Betroffene und 3497 Beschuldigte. „Diese Zahlen sind jedoch nur die Spitze der Spitze des Eisbergs“, sagte Studienleiter Martin Wazlawik.
Die kommissarische EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs erklärte, sie habe von der Studie „vieles erwartet, aber das Gesamtbild hat mich doch erschüttert“. Die Untersuchung vermittle, „mit welch perfider und brutaler Gewalt Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern unsägliches Unrecht angetan wurde – mit schweren Verletzungen an Leib und Seele, mit zum Teil lebenslangen Folgen“. Die Ergebnisse würden nun in den Gremien der EKD diskutiert, um gemeinsam Gegenmaßnahmen zu erarbeiten.
Die Studie macht deutlich: Auch in der evangelischen Kirche wurden erschreckend viele Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht. Auch sie hat viele Taten vertuscht. Und sie beendet eine Stellvertreter-Debatte. Denn bisher wurde das Problem überwiegend auf die katholische Kirche beschränkt – und auch deshalb nur unzureichend bekämpft.
Die Zahlen zeigen: Wer die verpflichtende Ehelosigkeit katholischer Priester als Ursache des Problems sieht, macht es sich zu einfach. In der evangelischen Kirche gibt es keinen Zölibat und trotzdem viele Missbrauchsfälle. Klar ist aber auch: Die Verantwortlichen in der katholischen Kirche können sich nicht zurücklehnen. Ihre Aufarbeitungsarbeit ist lange nicht beendet.
Laut Experten taugt die neue Studie auch nicht als Argument für Konservative, um den Synodalen Weg zu stoppen. Bei dem Reformprozess geht es unter anderem um eine neue Sexualmoral, auch der Zölibat wird überprüft. Schon die katholische MHG-Studie von 2018 ergab ja: Der Zölibat kann potenzielle Täter ins Priesteramt locken, die pädophil veranlagt sind oder Schwierigkeiten mit ihrer Sexualität haben.
Der Historiker Thomas Großbölting, der an der evangelischen Forum-Studie beteiligt war, sieht bestimmte Risikofaktoren in der katholischen Kirche, die Tätern den Missbrauch ermöglichen: „eine Sexualmoral, die viele Formen von Sexualität ausgrenzt und zu einer allgemeinen Doppelmoral führt“, sowie die Hierarchie, die den geweihten Priester in eine Machtposition bringt.
In den protestantischen Kirchen gebe es andere Risikofaktoren wie etwa die stilisierte Rolle des evangelischen Pfarrhauses. Die neue Untersuchung legt nahe, dass der Faktor Machtmissbrauch eine größere Rolle spielt als bislang angenommen. Er lässt sich in streng pietistischen Gemeinden wie auch in reformorientierten Gemeinden finden, in denen der Pfarrer ein Vertrauensverhältnis ausnutzt.
Schlechtes Zeugnis für Umgang mit Betroffenen
Was den Umgang mit Betroffenen angeht, stellten die Forscher der evangelischen Kirche ein schlechtes Zeugnis aus. Viele Betroffene machten die Erfahrung, dass die Institution träge reagiere, so Studienleiter Wazlawik. In fast der Hälfte der Landeskirchen existierten keine verbindlichen Regeln für die Erfassung von Fällen sexualisierter Gewalt. Viele Landeskirchen könnten eine Vernichtung von Akten nicht ausschließen. Aufarbeitung sei oft nur durch das Engagement Betroffener erfolgt – nicht proaktiv.
Als Ursachen dafür nannte Wazlawik die föderale Struktur der Kirche. Betroffene hätten Glück oder Pech, wie mit ihrem Fall umgegangen werde, je nachdem in welcher Landeskirche sie lebten. Auch werde Verantwortung zwischen den verschiedenen Ebenen hin- und hergeschoben. Zudem attestierte er der evangelischen Kirche Konfliktunfähigkeit: „Es gibt das Bedürfnis, immer schnell Harmonie herzustellen“, so Wazlawik.
Aus Sicht des Münsteraner Religionssoziologen Detlef Pollack werden die Ergebnisse der Studie die Kirchenkrise weiter verschärfen. „Es betrifft vor allem diejenigen, die von der Kirche viel halten und die selber in der Kirche sind“, sagte er. „Die wird es überraschen, für die ist es schmerzlich und erschütternd.“ Er rechne mit hohen Austrittszahlen.