Tee und Kakao im Sperrbezirk

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Unvoreingenommen, offen und mit weitem Herzen auf andere zugehen – nicht immer einfach. Besonders wenn es sich bei den anderen um Prostituierte handelt. Doch die Mitglieder der Teestube Sarah zeigen, wie vorurteilsfreie Nächstenliebe aussehen kann.

Ehrenamtliche bereiten Tee und Kakao für ihre Besuche bei den Prostituierten auf St. Pauli
Kuno Kohn, Renate Poussin und Evelyn Krepele (v. li.) bereiten den warmen Kakao vor. Sie sind drei von acht Helfern der „Teestube Sarah“.  Foto: Joanna Figgen 

Tagsüber noch unwirklich ruhig, erwacht St. Pauli nachts zum Leben: Grelle Neonschilder zieren die Straßen, feiernde Leute überall, Türsteher bewachen die Clubs und Frauen, die am Straßenrand warten. Denn St. Pauli ist neben dem Stadtteil St. Georg Hotspot für Prostitution. 

Das muss auch schon Otto Oberforster 1974 aufgefallen sein, der für einen Job bei Blohm & Voss in den 70er-Jahren von Österreich in die Hansestadt zog. Eines Morgens, auf seinem Arbeitsweg über den Kiez, ging der Österreicher an einer Frau vorbei und gab ihr Feuer. Sie war eine Prostituierte, die auf den nächsten Freier wartete. Die nächsten Tage kam der Werftmitarbeiter immer wieder vorbei. Irgendwann teilte er sich mit der Frau den Tee aus seiner Thermoskanne. Aus einer Kanne wurden zwei – und so blieb es auch nicht bei einer Frau, die er mit Tee versorgte. Es war die Geburtsstunde der „Teestube Sarah“.

So erzählen es die ehrenamtlichen Mitglieder der „Teestube Sarah“, die auch heute noch Otto Oberforsters Beispiel folgen. In regelmäßigen Abständen gehen sie durch die Herbertstraße, an der Reeperbahn sowie der Süderstraße vorbei und verteilen in den Abendstunden Tee, Kakao, Süßigkeiten und auch Kondome. Kuno Kohn, Mitglied des Teams der „Teestube Sarah“, kannte Otto Oberforster, der im Jahr 2000 starb, noch persönlich: „Otto hatte es selbst nicht immer leicht im Leben. Und doch hat er sich einmal an einem Karfreitag zu einer Frau gestellt. Acht Stunden lang, um zu erfahren, wie sich das anfühlt.“ Diese außergewöhnliche Solidarität machte Oberforster, der auch Mitglied der Christlichen Arbeiterjugend (CAJ) war, aus, sagt Kuno Kohn.

Kennengelernt haben sich die beiden Männer in den 80er-Jahren. Nach seiner Priesterweihe feierte Kohn seinen ersten Gottesdienst in Hamburg-Harburg. Die Kollekte sollte zur Hälfte an die Teestube gehen. Oberforster jedoch wollte das Geld nur unter der Bedingung annehmen, dass der Kaplan abends mal mitkommt, um sich ein Bild von der konkreten Not im Kiez zu machen. Seitdem ist Kuno Kohn der „Teestube Sarah“ stets ein wichtiger Begleiter geblieben. Trotz vieler katholischer Priester, evangelischer Pastoren und Mitarbeiter beider Kirchen, die sich über die Jahre engagiert haben, handelt es sich um keinen kirchlichen Verein. Die „Teestube Sarah“, die mittlerweile ein eingetragener Verein mit dem Namen Ökumenischer Dienst St. Pauli e.V. ist, gehört nicht zu der Caritas oder zu einer Pfarrei, so Kuno Kohn. 

Es sind die christlichen Werte, wie Nächstenliebe und Respekt, die die Ehrenamtlichen antreiben. Den Frauen in ihrer Würde zu begegnen, steht dabei an oberster Stelle. 

Evelyn Krepele engagiert sich seit etwa fünf Jahren: „Wir wollen als Menschen bei den Menschen sein. So wie Papst Franziskus sagt: ,Geht an die Ränder der Gesellschaft.‘ Ernsthaftigkeit ist das wichtigste Gebot.“ Aus diesem Grund bestimmen die acht Mitglieder sehr gewissenhaft, wen sie auf die Touren mitnehmen. Denn sie haben gegenüber den Frauen eine Verantwortung, so Evelyn Krepele.

Die Ehrenamtlichen wissen, dass sie nur einen kleinen Ausschnitt des gesamten Milieus wahrnehmen: „Wir fragen nicht nach, sondern hören zu, wenn erzählt wird. Wir sind nicht da, um unsere Neugier zu stillen“, sagt Evelyn Krepele und fügt hinzu: „Wir nehmen es auch hin, wenn die Frauen mal nicht mit uns sprechen wollen. Das ist total okay, vielleicht öffnen sie uns nächstes Mal wieder die Tür.“

Die Frauen so nehmen, wie sie sind. Das bedeutet auch, dass sie die Entscheidung der Frauen respektieren. Der Ausstieg aus der Sexarbeit steht deswegen für die Ehrenämtler keinesfalls im Mittelpunkt. Ihre Abendrunden zeichnen sich eher durch lockeres Plaudern aus. Gespräche über eine Vergrößerung der Brüste dürfen dabei kein Tabu sein. Die Mitglieder der Teestube sprechen mit den Frauen einfach über die Themen, die die Frauen in dem Moment bewegen. Auch kam es schon mal vor, dass sich die Zeit mit einem Tänzchen vertrieben wurde.

Viele der Frauen haben eine Ausbildung oder ein Studium abgeschlossen, sind Mütter oder Schwestern. „Es sind Frauen wie du und ich“, sagt Renate Poussin, die am längsten bei der Teestube mitwirkt. Eine Geschichte vergisst sie nicht: „Einmal erzählte ich von meinem Garten. Jahre später, ich dachte zwischendurch, die Frau würde nicht mehr hier arbeiten, traf ich sie wieder. Sie fragte mich: ‚Wie sieht es nun in deinem Garten aus?’ “ Die Prostituierten haben ein überdurchschnittliches Menschengespür und ein gutes Gedächtnis, so Renate Poussin, die auch schon mal beschenkt wurde: „Ich hatte eine Hüft-OP und musste pausieren. Wochen später war Weihnachten und als ich wieder meine Runde gehen konnte, bekam ich von mehreren Frauen als Weihnachtsgeschenk einen Präsentkorb überreicht.“

Die „Teestube Sarah“ wirkt nun seit fast 40 Jahren zwischen Reeperbahn und Herbertstraße. Noch immer kommen die Mitglieder in Otto Oberforsters alter Wohnung mitten auf dem Hans-Albers-Platz über einer Bar zusammen. Von dort ziehen sie in Zweierteams los und besuchen die arbeitenden Frauen. Denn genauso fing es vor etwa 40 Jahren an: Indem ein Mann einer Frau von seinem Tee abgab. Seit jeher steht das Zitat des  CAJ-Gründers Kardinal Joseph Cardijn über allem: „Jeder Mensch ist mehr wert als alles Gold der Erde.“

Text u. Foto: Joanna Figgen